Der Deutsche Kinderschutzbund hat klare Worte gefunden: Er nimmt die 5000 Euro nicht an, die der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy mit der Einstellung seines Verfahrens bezahlen muss. Am Dienstag hatte die Organisation noch das Gegenteil gesagt. Was den Sinneswandel bewirkt hat, ist im Moment nicht ersichtlich, die Annahme wird aber definitiv verweigert.
Als "fatales Signal" wertet der Kinderschutzbund die Entscheidung des Landgerichts Verden vom Montag und empört sich: Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass es möglich sei, sich von Vergehen gegen Kinder freikaufen zu können.
Der Kinderschutzbund distanziert sich nachdrücklich und medienwirksam von einem Gerichtsverfahren, dessen Ausgang juristisch nicht ungewöhnlich ist - was viele Menschen schwer oder gar nicht nachvollziehen können. Das bringt dem Verband in den sozialen Netzwerken Beifall, auch von bekannten Politikern. Überraschend ist die Entscheidung des Kinderschutzbundes indes nicht: Er weiß um die öffentliche Sprengkraft, die alles hat, was im Entferntesten mit Kindern und Sex zu tun hat. Die Organisation weiß das aus eigener Erfahrung.
Kinderschutzbund ließ sich von Pädophilen-Lobby umgarnen
Der Kinderschutzbund hat vor eineinhalb Jahren durch Recherchen der "Welt am Sonntag" und des stern erfahren müssen, dass er selbst nicht unbefleckt dasteht. In den 80er-Jahren ließ sich die "Lobby für Kinder" von der Pädophilen-Lobby umgarnen. Der Kinderschutzbund zeigte Verständnis für jene, die Sex mit Kindern nicht grundsätzlich ablehnten. Der Unterschied zum Fall Edathy: Dem Ex-Abgeordneten wurde vorgeworfen, kinderpornographische Schriften besessen zu haben. Der Kinderschutzbund hingegen diskutierte damals darüber, Sex mit Kindern zu entkriminalisieren.
Die Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS), eine Lobby-Organisation, in der sich in den 80er-Jahren Pädophile sammelten, stand in jener Zeit in direktem Kontakt zur Führung des Kinderschutzbundes. Und die Spitze des Kinderschutzbundes stand dem Anliegen der Pädophilen keineswegs ablehnend gegenüber.
Schon der AHS-Vorgängerorganisation DSAP, in der sich ebenfalls Pädophile sammelten, gelang es 1980 in Frankfurt, zwei Mitglieder im Deutschen Kinderschutzbund zu platzieren. So steht es jedenfalls in einem internen DSAP-Papier. Man habe beim Kinderschutzbund Personen ausgemacht, "die sich mit älteren Veröffentlichungen über 'Sittlichkeitsverbrecher' nicht mehr identifizieren können", heißt es.
Der Autor des Berichts meint damit, dass Sex mit Kindern im Kinderschutzbund nicht mehr von allen als unsittlich abgelehnt werde. Und er erklärt die weitere Strategie der DSAP: "Solche Leute gilt es anzusprechen und aufzuzeigen, dass sexuelle Zärtlichkeiten den Kindern selbstbewusstes Handeln gegenüber seelischer Gewalt ermöglichen." Sex mit Erwachsenen, so die Botschaft, mache Kinder stark fürs Leben.
Gegen die "Kriminalisierung (sexuell) gewaltsam agierender erwachsener Familienangehöriger"
Anfang der 80er-Jahre diskutierte der Kinderschutzbund seine Haltung zur sexuellen Gewalt in Familien. Er entschied sich für das Prinzip "Helfen statt strafen". Wenn Väter zu Tätern wurden, sollten sie möglichst in der Familie bleiben. Den Pädophilen-Lobbyisten kam das entgegen, denn sie wollten ihr Verhalten der Strafbarkeit entziehen.
Auch dem Grundsatzprogramm des Kinderschutzbundes konnten die Pädophilen weitgehend zustimmen. Dort hieß es: "Wir werden uns nicht an der Kriminalisierung (sexuell) gewaltsam agierender erwachsener Familienangehöriger beteiligen, und uns nicht als bürgerliches Meldesystem, als 'Horchposten' der Sozial-, Polizei- oder Justizbehörden missbrauchen lassen."
Das Grundsatzprogramm befasste sich auch mit dem umstrittenen Paragrafen 176 des Strafgesetzbuches, der den sexuellen Missbrauch von Kindern unter Strafe stellt. Zur Freude der Pädophilen wurde er als zu streng abgelehnt. Der Grund: Der Paragraf verletze das Recht der Kinder auf sexuelle Selbstbestimmung. In der strafrechtlichen Praxis, heißt es dort, seien Kinder als Sexualpartner von Erwachsenen nicht als "gleichberechtigte, ebenbürtige, verantwortungsfähige Akteure" vorgesehen.
Gegen die "feministischen Verbände"
Fanden solche Formulierungen versehentlich ins Programm? In dem Aktenbestand "B 426 - Kinderschutzbund", den das Bundesarchiv in einem seiner dunkelgrünen Metallmagazine aufbewahrt, liegen die Protokolle der Sitzungen des Bundesvorstandes. Sie zeigen, dass der Kinderschutzbund die programmatischen Aussagen vor Veröffentlichung intensiv diskutiert hat.
Wilhelm Brinkmann, der Verfasser des Grundsatzprogramms, war in den 80er-Jahren so etwas wie der Chefdenker des Kinderschutzbundes. Er sagte dem stern drei Jahrzehnte später, heute würde er deutlicher machen, "dass sexuelle Handlungen mit Kindern nicht in Ordnung sind". Früher habe man sich bei dem Thema erst langsam vorangetastet. "Die Unsicherheit war groß." Die eigentlichen Gegner sind für Brinkmann noch immer die Feministinnen.
"Bei der sexuellen Gewalt gab es die Betroffenheitsargumentation der feministischen Verbände. Und es gab die Fachlichkeitsargumentation des professionellen Kinderschutzes." So sieht Brinkmann das. Dort also die Frauenbewegung, betroffen, auf die Opfer fixiert. Und hier, so sieht es Brinkmann, die Profis vom Kinderschutzbund, an nichts als Sachlichkeit orientiert.
Pädophile applaudierten in der Verbandszeitschrift
Diese Profis lieferten den Pädophilen gute Vorlagen. 1985 widmete sich die Verbandszeitschrift "Kinderschutz aktuell" dem Thema Sexualität. Zu lesen waren Forderungen wie diese: Es müsse darum gehen, "vor Gesetz den Unterschied zwischen gewaltsamer Sexualität und gewaltfreier pädophiler Sexualität zum Tragen zu bringen".
Pädophile schrieben daraufhin lange, begeisterte Leserbriefe, die auch großzügig abgedruckt wurden. Über mehrere Ausgaben machten sie die Zeitschrift so zu ihrem Forum.
Vom "Kinderschmutzbund" oder auch vom "Täterschutzbund" sprachen Opferorganisationen, die sich in diesen Jahren gründeten und die Haltung des Verbandes ablehnten.
Prozess wegen sexuellen Missbrauchs - der Präsident protestiert
Mitte der 80er-Jahre tauchte auch ein führender Pädophilen-Lobbyist beim Kinderschutzbund auf, der später wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde. Werner Wendig (Name geändert) versuchte, den Präsidenten des Kinderschutzbundes, Walter Bärsch, für sich zu gewinnen. Es kam zu mehreren Treffen, eines in größerer Runde in der Verbandszentrale in Hannover. Bärsch berichtete danach dem Vorstand. Im Protokoll heißt es: "Herr Prof. Bärsch bleibt mit Herrn Wendig im Gespräch." Doch dabei blieb es nicht.
1989 trat Professor Walter Bärsch selbst dem Kuratorium der Pädophilen-Lobby AHS bei. Der Präsident des Kinderschutzbundes, hochgeachtet in der Bundesrepublik, an runden Geburtstagen mit den Glückwünschen des Kanzlers und des Bundespräsidenten bedacht - er schmückte nun einen Verein, zu dessen Tätigkeiten laut Rechenschaftsbericht solche Abende zählten: "Innerhalb der AHS-Tagung stellte sich auch die Fachgruppe Kindersexualität und Pädophilie vor. Der Tagungsraum war 'geschmückt' von klein- und großformatigen Fotos, auf denen männliche Kinder und Jugendliche abgebildet waren. Auch Aktaufnahmen waren darunter, als kleine Provokation gedacht. Anstoß daran nahm niemand." Es war die Zeit, als der Bundesanwalt Manfred Bruns, ein weiterer Prominenter im AHS-Kuratorium, die Organisation verließ. In der AHS, sagt Bruns heute, "sei es da ja nur noch um Pädophilie gegangen".
Der Chef des Kinderschutzbundes blieb. Walter Bärsch stand der AHS auch treu zur Seite, als ihr Wortführer Wendig 1992 wegen Verdachts auf sexuellen Kindesmissbrauch in Untersuchungshaft kam. Bärsch, inzwischen Ehrenpräsident des Kinderschutzbundes, protestierte "im Namen aller Mitglieder der AHS" gegen die juristische Beweisführung "zum Nachweis der Schuld des Herrn Wendig".
Nach dem stern-Bericht vom 10. Oktober 2013, der die engen Kontakte aufdeckte, kündigte der Kinderschutzbund an, seine eigene Vergangenheit aufarbeiten zu lassen. Er beauftragte das "Zentrum für Demokratieforschung" der Universität Göttingen. Der Bericht des Forschersteams um den Politikwissenschaftler Franz Walter wird dem Kinderschutzbund, so sagt es dessen Geschäftsführerin, "in ein paar Wochen" vorgelegt. Der Kinderschutzbund werde den Bericht dann auch öffentlich machen.