Die Gespenster suchen ihn fast jede Nacht heim. Jules Schelvis sieht die Leiche seiner Frau Rachel, damals 19. Sie liegt neben ihrer fast gleichaltrigen Schwester Hella und ihrem Bruder "Klein Herman", der nur zwölf Jahre alt geworden ist. Der Knirps drängt sich noch im Tod dicht an seine Eltern David und Gretha. Ihre nackten Leiber liegen auf Gitterrosten über dem Feuer und gehen in Flammen auf. Schweißgebadet schreckt Jules Schelvis hoch. Er zittert. Das Blut pocht in seinen Ohren. Doch das Erwachen tröstet ihn kaum. Denn er weiß, dass sein Alptraum wahr ist.
Jahrzehntelanges Verfahren
Viele Jahre haben die "Gespenster", wie Jules Schelvis seine Alpträume nennt, ihn in Ruhe gelassen. Doch seitdem der 88-jährige Niederländer weiß, dass er in Deutschland bald John Demjanjuk in die Augen sehen könnte, jenem Mann, dem die Staatsanwaltschaft München vorwirft, mit der SS von März bis September 1943 exakt 29.587 Juden in die Gaskammern von Sobibor getrieben zu haben - darunter seine Familie - schreckt Jules Schelvis fast jede Nacht hoch.
Seit über 30 Jahren versuchen die Justizbehörden in mehreren Ländern John Demjanjuk als Mordgehilfen der SS dingfest zu machen. Bislang ohne Erfolg. Nun soll der 88-Jährige in Deutschland vor Gericht gestellt werden. Wegen Beihilfe zum Mord. Insgesamt ermordeten die Nazis zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 mehr als 250.000 Juden in Sobibor, also etwa so viele Menschen wie die Stadt Kiel Einwohner hat. Am 14. Oktober 1943 gelang es den Häftlingen in Sobibor, einen Aufstand gegen die SS-Bewacher anzuzetteln. Das Lager wurde danach dem Erdboden gleich gemacht. Doch selbst wenn Demjanjuk jetzt der Prozess gemacht werden sollte, wäre dies nur auf den ersten Blick ein "Coup" in Sachen deutscher Vergangenheitsbewältigung. In Wirklichkeit wirft die Geschichte dieses jahrzehntelangen Verfahrens ein grelles Licht auf die Trägheit der deutschen Justiz, wenn es um die Verfolgung von NS-Verbrechern geht.
"Jude in schwarz-weiß"
Jules Schelvis, der im Prozess gegen John Demjanjuk wahrscheinlich als Zeuge aussagen wird, lebt in einem Vorort von Amsterdam. Er hat warme, dunkle Augen, schütteres, weißes Haar, ein rundes Gesicht, in das sich ein schmerzlicher Zug gegraben hat. Schelvis spricht ausgezeichnet deutsch. "Die Sprache habe ich in den KZ's der Deutschen gelernt", sagt Schelvis nüchtern. Seine Stimme verrät keinen Hass, keinen Groll. Dabei könnte man es ihm kaum verdenken. Zehn Konzentrationslager hat Jules Schelvis als "Arbeitsjude" überlebt. Die Nazis ermordeten 41 seiner Angehörigen.
Jules Schelvis sitzt in seinem Wohnzimmer auf einem eleganten Ledersofa. Chagalls "Jude in schwarz-weiß" sieht ihm von der blassgelb getünchten Wand über die Schulter. Schelvis hat das Bild seines Lieblingskünstlers in Öl nachgemalt. Dabei ist er gar kein gläubiger Jude. "Wir scherten uns nie darum, wer Jude war", sagt er. Während er aus seinem Leben erzählt, forscht Schelvis in den Augen seines Gegenübers, wie jemand, der ständig auf der Hut ist.
Wochenlang wurde um Demjanjuk gestritten. Mal hieß es, er werde ausgeliefert, dann wurde das Ganze wieder gestoppt. Nun wird er die USA endgültig verlassen und am Dienstag in Deutschland erwartet. Sein Vater sei unschuldig und habe niemandem etwas zu Leide getan, sagt Demjanjuks Sohn. Demjanjuk selbst will sich nicht äußern. Dabei hätte er sicherlich - ob schuldig oder nicht - viel zu erzählen über ein Leben, das alles andere als einfach war. Und vielleicht auch darüber, wie die Weichen der Geschichte einen Menschen zum Opfer, den anderen zum Täter machen können. Denn auch davon handelt die Geschichte von John Demjanjuk und Jules Schelvis.
"Wir aßen Hunde, Ratten, Mäuse, ja sogar unsere Hauskatze"
Jules Schelvis ist im Januar 1921 in Amsterdam geboren worden. Seine Mutter ist Näherin, sein Vater Diamantschleifer. Schelvis verlebt eine glückliche Kindheit. Nach der Schule beginnt er mit 16 eine Lehre als Drucker und tritt in die Sozialdemokratische Partei ein.
Iwan Demjanjuk ist nur neun Monate älter als Jules Schelvis. Er kommt im April 1920 in einem ukrainischen Dorf der Provinz Kiew zur Welt. Erst mit neun Jahren wird er eingeschult, besucht den Unterricht - mit einer Unterbrechung von zwei Jahren - nur fünf Jahre. Zu dieser Zeit kollektiviert Stalin die Landwirtschaft, zwingt die Bauern mit Waffengewalt in landwirtschaftliche Großbetriebe, so genannte Kolchosen, und lässt Getreidevorräte beschlagnahmen. Millionen Menschen verhungern. "Wir aßen Hunde, Ratten, Mäuse, ja sogar unsere Hauskatze", gibt Demjanjuk Jahre später zu Protokoll. Immerhin bringt er es als junger Mann auf einer Kolchose zum Traktorfahrer, gilt im bescheidenen Maße als privilegiert.
Jules Schelvis hat gerade seine Prüfung als Drucker bestanden und ist frisch verliebt, als die Wehrmacht im Mai 1940 Holland überfällt. Seine Angebetete Rachel, die von allen nur "Chel" gerufen wird, ist 17 und arbeitet als Näherin. Ihre Eltern David und Gretha sind nach dem ersten Weltkrieg vor dem Antisemitismus aus Polen nach Holland geflohen.
David, ein durchsetzungsfähiger, energischer Mann, beschäftigt in seiner Polsterei zehn Angestellte. Chel hat noch eine Schwester, Hella. Und einen Bruder, "Klein Herman". Er ist das Nesthäkchen der Familie, ein sensibler Bursche, der lieber liest, anstatt Fußball zu spielen. Chel und Jules hören die Nachricht von der Kapitulation im Radio. Jules Schelvis macht Chel spontan einen Heiratsantrag. "Nach dem Unglücksbericht fühlten Chel und ich, dass wir für einander bestimmt waren."
Erst Doppelhochzeit, dann Deportation
Ein Jahr später, im Juni 1941, überfällt die Wehrmacht auch die Sowjetunion. Iwan Demjanjuk, inzwischen 21, wird als Soldat zur Roten Armee eingezogen. Schon während der ersten Kämpfe wird Demjanjuk im Herbst 1941 verwundet. Er trägt eine Narbe auf dem Rücken davon. Kaum, dass er im Lazarett gesund gepflegt ist, muss er wieder an die Front.
Im Dezember 1941 heiraten Jules und Chel. Es wird eine Doppelhochzeit. Denn auch Chels Schwester Hella geht mit ihrem Verlobten Ab den Bund der Ehe ein. Die Bräutigame tragen Frack und Zylinder. Jules Schelvis blickt nach unten, wirkt fast ein bisschen linkisch unter dem schwarzen Zylinder, der ihm tief ins Gesicht rutscht. Die Bräute Chel und Hella sehen aus wie Zwillinge, tragen beide dasselbe hoch geknöpfte weiße Kleid, halten ein Bukett aus weißen Nelken im Arm. Ihr Lächeln ist voller Zuversicht.
Zu dieser Zeit tobt tausende Kilometer entfernt schon ein erbitterter Krieg zwischen Deutschen und Russen. Im Mai 1942 nimmt die Wehrmacht bei Kämpfen auf der Krim rund 160.000 Soldaten der Roten Armee gefangen. Auch der junge Soldat Iwan Demjanjuk fällt den Deutschen in die Hände.
Ein gutes halbes Jahr nach der Doppelhochzeit, im Juli 1942, werden in den Niederlanden die ersten Juden nach Auschwitz deportiert. Jules, Chel, Ab und Hella wohnen inzwischen bei den Schwiegereltern David und Gretha. Von den mörderischen Plänen der Nazis ahnt die Familie nichts. "Wir glaubten, dass die Deutschen uns Juden zum Arbeiten nach Deutschland schaffen würden", erzählt Schelvis. Die Familie hofft, dass die Alliierten sie vor diesem Schicksal bewahren.
"Für einen Laib Brot hätte ich meine Seele gegeben"
Unterdessen verschleppt die Wehrmacht Iwan Demjanjuk in ein Durchgangslager im ukrainischen Rowno. In den Kriegsgefangenenlagern herrschen katastrophale Zustände. Die Gefangenen verrecken an Ruhr und Fleckfieber oder sie verhungern. Von 5,7 Millionen russischen Soldaten, die die Wehrmacht gefangen nimmt, sterben 3,3 Millionen. "Für einen Laib Brot hätte ich meine Seele gegeben", erinnert sich Demjanjuk später. Die SS rekrutiert 4.000 bis 5.000 Kriegsgefangene im Alter von 18 bis 22 Jahren und macht sie zu "Hilfswilligen". Einer der Männer, die von der SS rekrutiert werden, ist nach Ansicht der Staatsanwaltschaft München Iwan Demjanjuk, damals 22.
Die SS karrt die Kriegsgefangenen mit Lastwagen in ein SS-Ausbildungslager nach Trawniki, südöstlich von Lublin, um sie dort als Mordgehilfen abzurichten. Schon bald sind diese SS-Schergen ein "fester Bestandteil des Personals bei der Judenvernichtung" und für ihre "unvorstellbare Brutalität" berüchtigt. Die "Trawniki" oder "Hiwis", wie sie fortan genannt werden, knüppeln mit Gewehrkolben auf Menschen ein, schießen wahllos in die Menge, knallen Kranke und Wehrlose in ihren Betten ab. Und sie treiben die Juden mit Waffengewalt in die Gaskammern.
Ende Mai 1943 schreckt eine Lautsprecherdurchsage Jules Schelvis und seine Familie aus dem Schlaf. "Achtung, Achtung. Hier spricht die deutsche Polizei", hallt es von den Häuserwänden. "Die gesamte Umgebung ist abgesperrt, überall sind Maschinengewehre aufgestellt."
In Schlafanzügen stürzen Jules, Chel, David, Gretha, Ab, Hella und "Klein Herman" ans Fenster, können sehen, dass die Brücke am Ende der Straße hochgezogen ist. Überall stehen bewaffnete Posten der Gestapo. "Auf jeden, der gegen diese Befehle verstößt, wird geschossen", bellt die Stimme. "Alle Juden werden zu Hause abgeholt. Wir werden die Häuser gründlich durchsuchen. Sie werden nach Deutschland gebracht, um dort unter Polizeiaufsicht zu arbeiten. Ich versichere Ihnen, dass Ihnen nichts passiert."
Die Familie hat Angst, aber keine Todesangst. "Wir verabredeten, dass sich niemand verstecken würde", erzählt Jules Schelvis. "Wir gingen immer noch davon aus, in Lager geschickt zu werden, wo Männer Schwerstarbeit verrichten und Frauen in Munitionsfabriken arbeiten oder Trümmer in den bombardierten Städten wegräumen würden. Wir würden wenig zu essen bekommen, aber es wäre vermutlich auszuhalten.
Mit der Gitarre im Gepäck ins Vernichtungslager
Wir wussten, dass die Nazis notorische Antisemiten waren, aber wir glaubten, dass sie doch noch nicht ganz bar menschlicher Züge waren. Ja, das glaubten wir damals noch." Jules Schelvis schweigt einen Moment lang, schüttelt den Kopf. "Als die Gestapo uns abholte, hatte ich meine spanische Gitarre im Gepäck. Ich dachte, dass uns nach getaner Zwangsarbeit in Polen ein Lied aufheitern würde."
Schelvis und seine Familie werden mit knapp 3.000 anderen Juden in fensterlosen Waggons wie Vieh zusammengepfercht nach Sobibor deportiert. "Wir fühlten uns wie Sardinen in der Büchse. Es lag kein Stroh auf dem Boden, es gab keine Matratzen, keine Haken, an denen man etwas hätte aufhängen können, nichts." Es ist erstaunlich, wie ruhig Schelvis erzählt, fast so als lese er aus einem Geschichtsbuch vor. Die SS stellt zwei Tonnen in die Mitte des Waggons. Eine ist mit Trinkwasser gefüllt. In der anderen sollen die Juden ihre Notdurft verrichten. Ein ekelhafter Gestank steht im Waggon, nimmt den Menschen die Luft zum Atmen. Doch noch immer ahnt die Familie nicht, was ihr bevorsteht. "Wir nahmen uns fest vor, uns nicht entmutigen zu lassen. Zum Glück waren wir gesund und konnten einiges ertragen. David und Gretha waren um die fünfzig, energisch und gescheit genug, um sich unter schwierigen Bedingungen über Wasser zu halten. Wir Kinder kamen aus der Jugendbewegung, waren daran gewöhnt in Zelten zu schlafen und ein karges Leben zu führen. Wir hatten gelernt, unser eigenes Essen zuzubereiten und mit Nadel und Faden umzugehen. Was konnte uns schon passieren?" Nur "Klein Herman" lässt sich nicht beruhigen. Das Kind wird von Weinkrämpfen geschüttelt.
Vernichtungslager Sobibor
Nach 65 Stunden, am 4. Juli 1943, hält der Zug im polnischen Sobibor, einem Ort in den Wäldern, wo die Nazis ein Vernichtungslager aufgebaut haben. Die Waggontüren öffnen sich. Davor stehen die "Trawniki". Mit Peitschen und Gewehrkolben prügeln sie die völlig erschöpften und übermüdeten Menschen aus den Waggons. Es ist unmöglich zu fliehen. Das Lager ist hermetisch abgeriegelt. Hinter den hohen Stacheldrahtzäunen und den Wachtürmen liegen Gräben und Mienenfelder. Die SS-Schergen treiben Männer, Frauen und Kinder auseinander. Plötzlich spürt Jules Schelvis, wie ihm die Hand seiner Frau Chel entrissen wird.
Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde und sie ist - wie seine übrigen Familienmitglieder - vom Chaos der Menge verschluckt worden. "Alles ging so schnell, dass ich sie nicht mehr küssen oder ihr ,bis gleich' zurufen konnte", sagt Schelvis. Wieder schüttelt er den Kopf. Die "Trawniki" treiben die Männer einem SS-Mann zu. Der mustert die Gefangenen der Reihe nach, gibt den Kräftigeren ein Zeichen, sich an die Seite zu stellen. Der SS-Mann schaut Jules Schelvis einen Moment lang an. Und schweigt. Jules Schelvis nimmt all seinen Mut zusammen. Er hat bei den kräftigen Männern seinen Schwager Ab und seinen besten Freund Leo de Vries entdeckt. Wie ein Schuljunge hebt er die Hand.
"Wir haben da eine Badeanstalt"
"Darf ich eine Frage stellen, Herr Offizier?" Der SS-Mann mustert Schelvis, schlägt mit der Peitsche gegen seine schwarzen Schaftstiefel. "Wie alt bist Du?", bellt er. "22, Herr Offizier." "Ich bin Oberscharführer. Gesund?" "Jawohl, Herr Oberscharführer." "Na, dann los", sagt der SS-Mann und nickt. Jules Schelvis rennt hinüber zu den kräftigen Männern. Er hört noch, wie der SS-Mann sich den übrigen Juden zuwendet, jener Gruppe, in der Chel, Hella, David, Gretha und "Klein Herman" sein müssen. "Ihr ward ja jetzt sehr lange unterwegs und seid schmutzig", sagt der SS-Mann mit ruhiger Stimme. "Deshalb sollt Ihr jetzt baden. Wir haben da eine Badeanstalt..."
Es sind Worte, die Jules Schelvis noch heute im Traum manchmal hört. "Keiner von uns hatte auch nur die geringste Ahnung, was geschehen würde", sagt Jules. Plötzlich bricht seine Stimme. Tränen schießen ihm in die Augen, er fällt ins Niederländische, spricht dann mit erstickter Stimme auf Deutsch weiter. "Der SS-Mann sagte zu uns: ,Man hat euch ausgesucht, um in einem anderen Lager zu arbeiten. Jeden Abend kommt ihr wieder nach Sobibor zurück und dann könnt ihr gemeinsam mit eurer Familie und Freunden essen. Die anderen gehen jetzt duschen."
Jules Schelvis sieht seine Familie nie wieder. Die Nazis schicken ihn als "Arbeitsjuden" von KZ zu KZ. Er wird 1944 von den Franzosen befreit. Schelvis kehrt zurück nach Amsterdam. Erfährt, dass Chel, Hella, David, Gretha und "Klein Herman" noch am Tag der Ankunft in Sobibor in der Gaskammer ermordet und ihre Leichen anschließend auf Gitterroste gelegt und verbrannt wurden.
Demjanjuk geht in die USA
Iwan Demjanjuk taucht nach dem Krieg 1945 in Landshut in einem Lager für "displaced Persons" auf. Er jobbt auf dem Bau und als Fahrer, zieht aber bald weiter nach Regensburg, wo er 1947 die fünf Jahre jüngere Ukrainerin Vira K. heiratet. Mit ihr geht Demjanjuk nach Bad Reichenhall und Ulm, wo 1950 Tochter Lidia geboren wird. Die Familie zieht von Lager zu Lager.
Feldafing, Ludwigsburg, München, Bremen. Demjanjuk will nach "Kanada oder Argentinien" auswandern, wie er bei den Behörden angibt. Auf die Frage, wo er sich in den vergangenen zwölf Jahren aufgehalten habe, gibt Demjanjuk an, von 1937 bis 1943 in Sobibor gewesen zu sein. Er will dort als "Fahrer" für einen Lohn von "40 Zloty" gearbeitet haben.
Bis zu 50.000 Kriegsverbrecher in die USA immigriert
Angaben, die Demjanjuk jetzt, über 60 Jahre später, zum Verhängnis werden könnten. Denn Sobibor war ein einsames Dorf in den Wäldern, das auf keiner Vorkriegskarte eingezeichnet war. Es gab dort nur das Vernichtungslager der Nazis. Doch nach dem Krieg interessieren sich die Amerikaner nur dafür, ob ihre Staatsbürger in spe TBC-krank sind. Als der Verdacht ausgeräumt ist, darf Demjanjuk mit Frau und Tochter am 29. Januar 1952 auf der "General Haan" von Bremerhaven in die USA reisen.
Unterdessen baut sich Jules Schelvis ein zweites Leben auf. Er arbeitet wieder als Drucker, heiratet ein zweites Mal, wird Vater eines Sohnes und einer Tochter. Nie redet er über seine Vergangenheit, vertreibt die Geister mit Arbeit, macht Karriere, wird Betriebsleiter eines großen Zeitungsverlages, muss oft nachts raus, wenn die Druckmaschinen streiken. Ihm ist das recht. Er schläft ohnehin schlecht, träumt oft von der Vergangenheit, die er hinter sich lassen will.
In den USA ändert Demjanjuk seinen Vornamen Iwan in John. Er zieht mit seiner Familie nach Ohio, findet eine Stelle bei Ford. Schuftet, bis er sich 1956 ein Eigenheim leisten kann. Demjanjuk besinnt sich auf seinen christlich-orthodoxen Glauben, geht sonntags in die Kirche. 1958 wird er amerikanischer Staatsbürger. "Das war der glücklichste Tag in unserem Leben", erinnert sich seine Frau Vira, die sich jetzt Vera nennt, später. Doch in den 70er Jahren holt die Vergangenheit John Demjanjuk ein. Die Amerikaner merken, dass sie mit den Einwanderern aus Deutschland nach dem Krieg bis zu 50.000 Kriegsverbrecher ins Land geholt haben.
Der Kongress beschließt die Gründung des Office of Special Investigations (OSI). Das OSI, das beim Justizministerium angesiedelt wird, soll die NS-Verbrecher finden. Allerdings nicht, um sie für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen, sondern um ihnen die US-Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Dafür reicht es, wenn ein Einwanderer bei seiner Einreise verschwiegen hat, dass er zum Beispiel bei der SS war. Auf einer Liste suspekter Nachkriegseinwanderer taucht 1975 das erste Mal der Name Demjanjuk auf. Die OSI-Ermittler werden stutzig, als sie lesen, dass Demjanjuk in Sobibor gewesen sein will, und laden ihn vor. Doch nun bestreitet Demjanjuk, je dort gewesen zu sein, behauptet, er habe das Ende des Krieges in deutscher Gefangenschaft erlebt. Doch nur wenig später, im Sommer 1976, veröffentlicht eine ukrainische Zeitschrift die Aussage von Ignat Daniltschenko, einem verurteilten Sobibor-Wächter, der Demjanjuk schwer belastet: "Ich habe Iwan Demjanjuk im März 1943 im Todeslager von Sobibor zum ersten Mal gesehen und kennen gelernt, wo er SS-Wächter war", sagt Daniltschenko aus.
Wachmann Nummer 30, Iwan Demianiuk
Er gibt weiter zur Protokoll, dass Demjanjuk die nackten Menschen durch den schmalen Weg in die Gaskammer trieb. "Zögernde Menschen" habe Demjanjuk gar in die Kammer "gestoßen", behauptet Daniltschenko und sagt weiter: "Im Frühjahr wurden Iwan Demjanjuk und ich nach Flossenbürg und dann nach Regensburg geschickt." Tatsächlich stoßen die OSI-Ermittler in den Archiven des KGB auf einen SS-Dienstausweis, der auf "Demjanjuk, Iwan" ausgestellt ist. Unter "Besondere Merkmale" ist vermerkt: "Narbe auf dem Rücken".
Unter "Abkommandierungen" steht: 27.3.43 Sobibor. Darüber hinaus finden die Ermittler eine "Verlegungsliste". Darauf heißt es unter dem Datum 27. März 1943: "Am heutigen Tage wurden vom Ausbildungslager Trawniki an obige Dienststelle (Sonderkommando Sobibor) folgende Wachmänner abkommandiert." Wachmann "Nummer 30" ist: "Iwan Demianiuk, geb. am 3.4.1920". Aufgrund dieser Beweise wird Demjanjuk 1981 die amerikanische Staatsbürgerschaft aberkannt.
Überlebende melden sich
Etwa zur gleichen Zeit melden sich in Israel Treblinka-Überlebende, die John Demjanjuk als einen ihrer Wärter ("Iwan der Schreckliche") zu erkennen glauben. Demjanjuk wird 1986 nach Israel ausgeliefert und vor Gericht gestellt. Der Prozess dauert anderthalb Jahre und endet 1988 mit einem Todesurteil. Demjanjuk legt Berufung ein und bleibt bis zur Entscheidung in Israel in Haft. Im Juli 1993 spricht der Oberste Gerichtshof Israels Demjanjuk frei. Die Richter haben "begründete Zweifel", dass es wirklich John Demjanjuk war, der als "Iwan der Schreckliche" in Treblinka gewütet hat. Die Zeugen haben ihn offenbar mit einem anderen Wärter namens Iwan verwechselt.
Gleichwohl hegen die Richter - unter anderem aufgrund des SS-Ausweises, den amerikanische und israelische Gutachter für echt halten - nicht den geringsten Zweifel daran, dass Demjanjuk als "Hilfswilliger" der SS in Sobibor war. Der Jüdische Weltkongress fordert deshalb, Demjanjuk nun wegen Sobibor vor Gericht zu stellen. Doch die Israelis haben Demjanjuk wegen Treblinka ausliefern lassen, nicht wegen Sobibor.
Ein Verfahren voller Pannen
Und das ist nicht die einzige Panne in diesem Verfahren: Daniltschenkos Aussage, dass er Demjanjuk in Sobibor, nicht aber in Treblinka gesehen haben will, ist aus den Akten verschwunden. Die Ermittler müssen sich deshalb später von einem amerikanischen Gericht anhören, sie hätten Beweismittel unterdrückt. Auch Mitarbeiter des deutschen Bundeskriminalamtes (BKA) spielen eine unrühmliche Rolle. Ein BKA-Abteilungsleiter schreibt eigenmächtig einen Vermerk, in dem er die Echtheit des SS-Ausweises anzweifelt, und zwar obwohl das BKA - wie die Behörde inzwischen betont - den Ausweis nie begutachtet hat.
Der Vermerk wird ans Auswärtige Amt geschickt und an die Öffentlichkeit lanciert. Zur Frage der Echtheit des SS-Ausweises haben die BKA-Mitarbeiter seinerzeit einen selbsternannten Gutachter zweifelhaften Rufs angehört: Dieter Lehner, der in einem Buch, das in einem rechten Verlag erschienen ist, behauptet, dass der SS-Ausweis gefälscht sei. Obwohl Lehner, wie er auf stern-Anfrage freimütig einräumt, nur "Autodidakt" ist und über keine wissenschaftliche Ausbildung verfügt, darf er damals sogar zur Frage der Echtheit des Ausweises "ein persönliches Gespräch mit Mitarbeitern des Bundeskriminalamtes" führen, wie das BKA dem stern gegenüber bestätigt.
Waffennachweis wird Demjanjuk zum Verhängnis
Wes Geistes Kind Dieter Lehner ist, zeigt sich später: Er wird 1992 vom Amtsgericht Landsberg wegen "Verbreitens und Herstellens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" verurteilt. Porzellanmaler Lehner hatte Hakenkreuze, SS-Runen, Wappen von SS-Divisionen und SS-Wahlsprüche auf Geschirr gepinselt, sie mit Hitler-Bildern beklebt und in die USA exportiert. 1998 gibt das Bundesgericht in Cleveland Demjanjuk die amerikanische Staatsbürgerschaft zurück. Eine Schlappe, die die Ermittler des Office of Special Investigations nicht hinnehmen wollen. Sie sammeln weiter Beweise gegen Demjanjuk. In deutschen Archiven stoßen sie auf einen interessanten Vermerk aus dem KZ Majdanek.
Es handelt sich um eine Beschwerde gegen einen Wachmann namens Iwan Demjanjuk, der am 18. Januar 1943 mit drei anderen Kameraden "trotz wiederholten Befehls der Lagersperre die Unterkunft und den Lagerbereich verlassen" hat. Demjanjuk wird mit 25 Stockschlägen bestraft. Im Bundesarchiv finden die OSI-Ermittler außerdem einen "Waffen- und Gerätenachweis", der belegt, dass am 8. Oktober 1943 einem Mann vom "Wachblock" namens "Demianiuk" ein "Seitengewehr" ausgehändigt worden ist. Demjanjuk war also nach Aktenlage offenbar erst in Majdanek, dann in Sobibor und schließlich in Flossenbürg. Aufgrund dieser neuen Beweise wird Demjanjuk 2002 die amerikanische Staatsbürgerschaft wieder aberkannt. 2005 fordern die US-Behörden ihn auf, das Land zu verlassen.
Trotz Beweisen ermitteln die Deutschen nicht
Obwohl die Justizbehörden in Israel und in den USA inzwischen eine Reihe von Beweisen gegen Demjanjuk zusammengetragen haben, sieht die deutsche Justiz noch immer keine Veranlassung, eigene Ermittlungen anzustellen. Demjanjuk sei für ihn "kein Thema" gewesen, gibt Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm, Chef der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, freimütig zu. Erst nachdem im Frühjahr 2008 Demjanjuks Ausweisung rechtskräftig geworden sei, habe "ein Mitarbeiter" der Zentralen Stelle die Idee gehabt, gegen Demjanjuk zu ermitteln. Mit anderen Worten: Dass in Deutschland gegen Demjanjuk ermittelt wird, ist mehr oder weniger dem Zufall zu verdanken. Denn die Beweise zu den Vorwürfen, die ihm jetzt zur Last gelegt werden, sind seit 1993 bekannt. Die deutsche Justiz lässt 16 Jahre verstreichen, bevor sie mit den Ermittlungen beginnt.
Der Mitarbeiter, der gegen Demjanjuk die Ermittlungen aufnimmt, heißt Thomas Walther. Der 65-jährige Jurist war Staatsanwalt und Richter, bevor er bei den Nazijägern in Ludwigsburg anheuert. Gemeinsam mit seiner Kollegin Kirsten Goetze, einer Richterin, die vom Landgericht Stendal abgeordnet worden ist, klärt der Jurist als erstes, ob in Sobibor deutsche Juden ermordet wurden. Denn dann ist Deutschland automatisch für die Strafverfolgung der Täter zuständig. Eine Frage, die bislang noch niemand geklärt hat. Walther und Goetze tragen Name, Geburtsort, Todesdatum von 29.587 Opfern zusammen, die von März bis September 1943 in Sobibor ermordet wurden, darunter die Familie von Jules Schelvis. 1.940 Opfer sind deutsche Juden. Walther macht in Landshut außerdem einen 90-jährigen Zeugen ausfindig, der als Wachmann im KZ-Flossenbürg war und aussagt, er könne sich an Demjanjuk erinnern.
Walther und Goetze reisen nach Washington und nach Israel. In Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Israel, und im Nationalarchiv Jerusalem lassen sie sich die Prozessakten zum Fall Demjanjuk geben. Was sie mit den Akten wollten, will eine Archivarin wissen. "Wir ermitteln gegen Demjanjuk wegen Sobibor", antwortet Walther. Der Archivarin schießen Tränen in die Augen. Sie sagt nur ein Wort: "Endlich".
War Demjanjuk in einer Zwangslage?
Doch hatte Demjanjuk 1942 überhaupt eine andere Wahl? Wenn er sich nicht der SS angeschlossen hätte, wäre er vermutlich verhungert. Und hätte die SS ihn nicht erschossen, wenn er den Befehl verweigert hätte, Juden in die Gaskammern zu treiben? "Putativbefehlsnotstand" nennen Juristen diese Zwangslage. Doch Walther glaubt nicht, dass Demjanjuk davon ausgehen musste, erschossen zu werden. "Er ist ja in Majdanek abgehauen und hat gesehen, dass er nicht umgebracht, sondern ,nur' geschlagen wurde." Eine Ansicht, die die Staatsanwaltschaft München teilt. Demjanjuk hätte - wie viele Trawniki auch - desertieren können. Schließlich hätten die Wachmannschaften sechs Tage Dienst und einen freien Tag gehabt.
Im November 2008 ist das Vorermittlungsverfahren abgeschlossen. Pünktlich, kurz vor dem 50-jährigen Bestehen der Zentralen Stelle, geben die Ludwigsburger ihren 140-seitigen Abschlussbericht ab an die Staatsanwaltschaft München, dort, wo Demjanjuk in Deutschland zuletzt gewohnt hat. Die Staatsanwälte der Zentralen Stelle dürfen keine Anklage erheben. Sie sind, böswillig formuliert, zahnlose Tiger. Aber Schrimm ist sich sicher: "Man kann sofort Anklage gegen Demjanjuk erheben." Inzwischen hat sich auch der Sobibor-Überlebende und Autor Thomas T. Blatt ("Nur die Schatten bleiben") als Nebenkläger gemeldet. Doch die Staatsanwaltschaft München lehnt es zunächst ab, gegen Demjanjuk zu ermitteln, fühlt sich nicht zuständig. Sie muss erst vom Bundesgerichtshof gezwungen werden, sich des Falles anzunehmen. Erst nachdem das Landeskriminalamt den SS-Ausweis begutachtet und ihn für echt hält, erwirkt die Staatsanwaltschaft Haftbefehl gegen Demjanjuk.
Tagsüber hält Schelvis die Geister in Schach, indem er das Grauen katalogisiert. Er füttert seinen Computer mit Berichten von Opfern und Tätern, hat zwei Bücher über Sobibor geschrieben ("Die Reise durch die Finsternis" und "Vernichtungslager Sobibor"). In seinem Arbeitszimmer steht ein Modell von Sobibor, das er gebaut hat. "Das hier nannte man Himmelfahrtsstraße", sagt er und zeigt auf den Weg, der zur Gaskammer führt. Abgebrochene Streichhölzer symbolisieren die Menschen auf ihrem Weg in den Tod.
Der Gaskammer hat Schelvis ein signalfarbenes Dach verpasst. Auch die Gitterroste, auf denen die Leichen verbrannt wurden, hat er in Miniaturform nachgebaut. Er hat 1966 vor dem Landgericht Hagen, im ersten Sobibor-Prozess ausgesagt. Schelvis will auch nach München fahren. "Ich will gar nicht, dass Demjanjuk ins Gefängnis kommt", sagt Jules Schelvis plötzlich. "Es reicht, wenn er ausgeliefert oder angeklagt wird. Wenn einmal festgestellt wird, dass er Unrecht getan hat."