Von dem Moment, als der weiße Lkw das burgähnliche Tor des Wandsworth-Gefängnisses passiert bis die Polizei alarmiert wird, vergehen knapp 45 Minuten. Als die Beamten samt Spürhunden den Lieferwagen im zähen Londoner Berufsverkehr stoppen, finden sie nur noch die Gurte am Fahrzeugboden. Vom Flüchtigen fehlt jede Spur.
Zwei Tage vergehen. Häfen und Flughäfen sind in Alarmbereitschaft, Urlauber müssen sich teils mit langen Verzögerungen herumschlagen. Die Polizei sucht überall, auch außerhalb der Hauptstadt. Mehr als 150 Anti-Terror-Spezialkräfte sind dabei.
Was nach der Eröffnungsszene eines eher faul geschriebenen Hollywood-Drehbuchs klingt, ist nur ein Kapitel im spektakulären Fall des 21-jährigen britischen Ex-Soldaten, Terrorverdächtigen und mutmaßlichen Spions Daniel K.
Platz für 40.000 Insassen: Das ist El Salvadors neuer Mega-Knast

Daniel K.: vom Soldaten zum mutmaßlichen Spion
K. hatte sich 2018 für den Dienst im britischen Militär eingeschrieben. Dort wurde er zum Computernetzwerkingenieur im Royal Corps of Signals ausgebildet, einer auf "kampferprobte Kommunikation" spezialisierte Einheit der britischen Armee. Stationiert war er in den sogenannten Beacon Barracks, einem Stützpunkt in Stafford.
Anfang des Jahres endete seine Karriere, bevor sie richtig begonnen hatte. Medienberichten zufolge soll er im Januar in seiner Kaserne in Stafford eine Bombenattrappe gebaut haben, die aus "drei Kanistern mit Drähten" bestand, so die Staatsanwaltschaft. Bereits 2022 war er laut eines Berichts des "Independent" wegen einer anderen Straftat festgenommen, aber auf Kaution wieder freigelassen worden. Nach dem Fake-Bombenbau im Januar sei er aus dem Stützpunkt geflohen – man habe "aktiv nach ihm gesucht". Einige Wochen später ging er den Ermittlern ins Netz. Seitdem saß er in Untersuchungshaft – diesmal ohne Möglichkeit auf Kaution.
Dem inzwischen 21-Jährigen werden weitere schwere Vergehen vorgeworfen. In der Anklage heißt es, der junge Mann habe sein Land ausspioniert. Er soll seine militärische Stellung im August 2021 ausgenutzt haben, um an sensible Personalinformationen zu gelangen, "die für eine Person, die einen terroristischen Akt begeht oder vorbereitet, von Nutzen sein könnten". Insgesamt soll er über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren spioniert und damit gegen den Official Secrets Act verstoßen haben. Die Informationen und Dokumente, die er währenddessen sammelte, könnten "direkt oder indirekt für einen Feind nützlich" sein, zitiert der britische "Guardian" die Anklage. Wer dieser "Feind" ist, blieb zunächst unklar. Britische Medien munkeln, dass der Iran dahinter stecken könnte und berufen sich auf Sicherheitsquellen.
K. selbst bestreitet alle Vorwürfe. Die Hauptverhandlung sollte im November im Woolwich Crown Court starten. Der Termin ist nun mindestens fraglich. Schließlich muss die britische Justiz den mutmaßlichen Spion erst einmal in die Finger kriegen. Schon wieder.
Flucht aus Wandsworth: Ab durch die Küche?
Das Gefängnis Wandsworth im Süden Londons ist ein kolossaler Bau. Hinter den Toren des 1851 eröffneten Gebäudes sind mehr als 1500 verurteilte und mutmaßliche Verbrecher eingesperrt. Es ist das zweitgrößte Gefängnis im Land und sicher genug für einen ausgebildeten Soldaten. So dachte man zumindest.
K., der hier seit seiner Festnahme Ende Januar einsaß, war an einen begehrten Job in der Gefängnisküche gekommen, berichten britische Medien. Zwar kam er dadurch mit den Lebensmittellieferungen in Kontakt. Wie es ihm aber gelingen konnte, sich mit Gurten an die Unterseite des Lkw zu schnallen und anschließend als blinder Passagier unbemerkt durch die Gefängnistore chauffiert zu werden, darüber rätseln die Ermttler noch. Die Polizei schließt Komplizen nicht aus, weil Lieferwagen bei der Ein- und Ausfahrt standardmäßig kontrolliert werden. Ein einfacher Blick unter den Wagen mit einem Spiegel hätte K. auffliegen lassen müssen.
Die naheliegendste Erklärung für die gelungene Flucht: menschliches Versagen. "Das Problem, über das wir besonders besorgt sind, ist, dass es in Wandsworth zu viele Gefangene für die Anzahl der dortigen Bediensteten gibt", erklärt Charlie Taylor dem "Guardian". Als Chefinspektor hatte Taylor Wandsworth bereits vor zwei Jahren eine katastrophale Bilanz ausgestellt. Die Anstalt sei "bröckelnd, überfüllt, von Ungeziefer befallen", attestierte Taylor damals. Die Moral der Mitarbeiter sei kritisch, der Personalmangel verhindere "einen angemessenen und vorhersehbaren Vollzug". 30 Prozent der Angestellten erschienen offenbar entweder erst gar nicht oder waren nicht voll arbeitsfähig. Zudem habe ein Viertel des Personals nicht einmal ein Jahr Erfahrung in Wandsworth.
Justizminister Alex Chalk zufolge seien zum Zeitpunkt von K.s Flucht jedoch alle Posten besetzt gewesen. Er mache eher mangelnde Standards als fehlende Ressourcen verantwortlich. Dem "Independent" zufolge soll Chalk inzwischen ein "dringliches Gespräch" mit dem Gefängnisdirektor geführt haben.
Am Ende bleibt die Frage, warum K. mit seinem militärischen Hintergrund und angesichts der schweren Vorwürfe überhaupt in Wandsworth untergebracht war. Wandsworth ist eine Anstalt der Sicherheitsstufe B, der zweithöchsten von vier Kategorien. Kritiker wundern sich, dass K. nicht in einer Hochsicherheitsanstalt wie Belmarsh untergebracht war, in der häufig Terrorismusverdächtige inhaftiert sind.
Es ist nicht das erste Mal, dass eine Flucht aus Wandsworth gelingt. 1965 brach der berühmte britische Posträuber Ronnie Biggs aus der Anstalt aus. In den folgenden drei Jahrzehnten tauchte er in mehreren Ländern auf verschiedenen Kontinenten unter. Erst 2001 endete das Versteckspiel, als Biggs sich selbst stellte. Einem deutschen Publikum dürfte Wandsworth allerdings aus einem anderen Grund bekannt sein: Ex-Tennis-Star Boris Becker verbrachte hier zuletzt einige Zeit.
Zellen, kleiner als manche Besenkammer: So sieht das Gefängnis aus, in dem Boris Becker zeitweise einsaß

Fünfte erfolgreiche Flucht seit 2017
K. ist der fünfte Häftling seit 2017, dem die Flucht aus einem britischen Gefängnis gelang. Premierminister Rishi Sunak betonte, Vorfälle wie dieser seien "extrem selten". Um 7.32 Uhr am Mittwoch verließ der Lieferwagen Wandsworth. Erst um 8.15 Uhr wurde die Polizei alarmiert – weitere sieben Stunden später ging die an die mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit. Eine vermeintliche Sichtung im zwei Autostunden entfernten Banbury, die durch die sozialen Medien geisterte, entpuppte sich als Falschmeldung.
Auch zwei Tage nach seiner Flucht in rot-weiß-karierten Kochhosen bleibt K. verschwunden. Die Tatsache, dass der entkommene Gefangene noch nicht gesehen wurde, sei "vielleicht ein Beweis für Daniel K.s Einfallsreichtum", sagt Dominic Murphy, Leiter der Anti-Terror-Einheit der Londoner Polizei. Eine Bedrohung für die Öffentlichkeit sei er vermutlich nicht. Trotzdem gilt: Wer K. sieht, der soll Abstand halten – und die Polizei rufen.
Auf einem am Donnerstag von der Londoner Polizei veröffentlichten Foto grinst ein jungenhafter, drahtiger Kerl in Militäruniform schelmisch in die Kamera. Ein ehemaliger Mitinsasse beschreibt K. gegenüber der BBC als "komischen" Typen, der davon geredet habe, eines Tages berühmt zu werden. Dass jemandem die Flucht aus Wandsworth gelungen sei, davon sei er "überrascht, aber nicht überrascht". Schließlich hätten die Häftlinge in der Küche oft darüber gewitzelt, dass sie doch einfach in den Lieferwagen springen und abzischen könnten. Aber so einfach sei das eben nicht.
Quellen: "Guardian"; "Telegraph"; "Independent"; BBC (1); BBC (2)