Kommunalwahlen in England Böses Erwachen für Boris Johnson: Erster Stimmungstest straft Konservative nach Partygate-Skandal ab

Premier Boris Johnson auf dem Weg ins Wahllokal.
Premier Boris Johnson auf dem Weg ins Wahllokal. Auch seine Stimme konnte die Tories nicht vor herben Verlusten bewahren.
© Tim Ireland / DPA
Für Boris Johnson fällt der erste Stimmungstest enttäuschend aus. Nach Skandalen um Lockdown-Partys und Sexismus im Parlament strafen die Wähler seine Tories bei den Kommunalwahlen ab. Doch dem britischen Premier bleibt ein Hoffnungsschimmer.

Es dürfte ein böses Erwachen für Boris Johnson gewesen sein. Bei den Kommunalwahlen am Donnerstag musste seine konservative Partei ersten Ergebnissen zufolge herbe Verluste einstecken. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten haben die Tories die Kontrolle über die Londoner Stadtteile Wandsworth, Westminster und Barnet verloren. Auch in Southampton, Cumberland und mehreren anderen Toriy-Hochburgen konnte die oppositionelle Labour-Partei Gewinne einfahren.

"Wir haben eine harte Nacht hinter uns in einigen Teilen des Landes, aber andererseits haben wir auch Zugewinne gemacht an Orten, die lange nicht, wenn überhaupt schon einmal, konservativ gewählt haben", sagte Johnson vor Reportern am Freitag. Labour-Chef Keir Starmer sprach hingegen von einem "gewaltigen Wendepunkt" für seine Partei.

Bei den Kommunalwahlen wurde in weiten Teilen Englands sowie in Wales und Schottland über Tausende Sitze in Gemeinde- und Bezirksräten abgestimmt. Auch wenn der Fokus auf der konkreten Politik vor Ort liegt, galten die Wahlen diesmal als Stimmungstest für den Premier persönlich. Nach der anhaltenden Partygate-Affäre um illegale Lockdown-Feiern und mehreren Sexismus-Vorfällen im Parlament wächst in der Bevölkerung der Frust über das skandalöse Verhalten in der Downing Street. Vielerorts hatten sich konservative Kandidaten im Wahlkampf von Johnson distanziert und auf Wahlplakaten teilweise darum gefleht, sie nicht für Fehler der Regierung verantwortlich zu machen.

Mit Bekanntwerden der ersten Ergebnisse wurden am Freitag viele der Befürchtungen war: Stand 19 Uhr haben die Tories in England 311 Sitze verloren – im Laufe des Abends könnten es noch mehr werden.

Lokal-Konservative für Rücktritt von Boris Johnson

In Carlisle, im nordwestenglischen Bezirk Cumberland, kann der konservative Stadtratsvorsitzende John Mallinson seinen Ärger kaum verbergen. Es sei "schwierig gewesen, die Debatte auf lokale Themen zu lenken", während der Wahlkampf von den Partygate-Skandalen und der wegen der Inflation stark gestiegenen Lebenshaltungskosten dominiert worden sei. "Ich denke, es ist nicht nur Partygate, es gibt ein Integritätsproblem", sagte Mallinson im "BBC"-Interview. "Im Grunde habe ich einfach das Gefühl, dass die Leute nicht mehr das Vertrauen haben, dass man sich darauf verlassen kann, dass der Premierminister die Wahrheit sagt." Auf die Frage, ob Johnson abgesetzt werden sollte, antwortete er: "Das würde ich bevorzugen, ja."

Auch im Stadtrat von Portsmouth herrscht großer Frust mit den Verantwortlichen in London. Die Führung in Westminster müsse "einen guten, langen und genauen Blick in den Spiegel werfen", um zu erfahren, warum sie vier Sitze verloren habe, sagte Simon Bosher, der dienstälteste Tory in Portsmouth. Auf Nachfrage des "Guardian", ob er damit den Premier meine, sagte Bosher: "Ich denke, auch Boris muss einen guten, ordentlichen Blick in den Spiegel werfen, (...) weil das die Leute vor der Haustür sind, die letztendlich die Hauptlast für das Verhalten in Westminster abbekommen."

Kritik an Johnson kommt auch aus dem Parlament. Der konservative Abgeordnete Stephen Hammond erklärte, Partygate habe einen "großen Einfluss auf die Wähler" gehabt. Sein Parteikollege David Simmonds sagte, Johnson müsse sich nun "schwierigen Fragen stellen". 

Andere führende Konservative versuchten hingegen die Verluste herunterzuspielen. "Natürlich hatten wir einige schwierige Ergebnisse, das kann man in London sehen", sagte Tory-Generalsekretär Oliver Dowden der "BBC". Vor allem in ländlicheren Gemeinden hätte seine Partei jedoch zugelegt. "Wenn man bedenkt, dass wir Midterms haben, zeigt das definitiv nicht, dass Labour ein Momentum hätte, um die nächste Regierung zu stellen", beteuerte Dowden. Zudem bestritt er, dass Johnson eine Schuld für die Wahleinbußen trage und bekräftigt im Gespräch mit Sky News: "Wir brauchen diese Art mutiger Führung."

Labour ruft "Wendepunkt" aus – Liberale feiern Aufschwung

Im Labour-Flügel sorgte hingegen besonders der überraschende Sieg in mehreren Londoner Wahlbezirken für Jubel. "Dies ist ein gewaltiger Wendepunkt für uns", erklärte der triumphierende Parteichef Keir Starmer – und verwies auf den Tiefpunkt bei der Parlamentswahl 2019, als seine Partei noch deutliche Verluste erlitten hatte. "Wir haben Labour verändert", betonte Starmer und sprach von einer "Botschaft" an den konservativen Premierminister Boris Johnson.

Doch abgesehen von der Hauptstadt und einigen Orten in Südengland, konnte die größte Oppositionspartei nach den ersten Auszählungen keine nennenswerten Gewinne erzielen. "Das Problem ist, dass der Stimmenanteil der Labour Partei außerhalb von London tatsächlich leicht zurückgegangen ist", bilanzierte Wahlexperte John Curtice bei "BBC Radio 4". Insgesamt hatten am Nachmittag die "Liberal Democrats", die "Independents" und die "Green Party" die meisten Sitze gewonnen, insbesondere im südenglischen Oxfordshire, Eastleigh und Portsmouth. Stand 19 Uhr kam die Labour Partei auf 48 neue Sitze, während die Liberaldemokraten 175 und die Grünen 60 holen konnten. 

Mit Blick auf die Parlamentswahlen 2024 kündigte die liberaldemokratische Partei dem Premier den Kampf an: "Es ist klar, dass es in vielen Teilen des Landes die Liberalen Demokraten sind, die die Konservativen besiegen und Boris Johnson aus der Downing Street holen können", sagte die stellvertretende Parteivorsitzende Daisy Cooper.

Auch der Labour-Vorsitzende Barry Rawlings sieht die Wahlergebnisse weniger als Ausdruck der Begeisterung für seine Partei als vielmehr der Enttäuschung über die Tories. "Ich bin ehrlich, es liegt nicht daran, dass wir so toll sind", sagte Rawlings. "Ich denke, viele Konservative haben dieses Mal nicht gewählt, weil sie sich von der [Downing Street] Nr. 10 entfremdet fühlen und enttäuscht von Boris Johnson sind und deshalb nicht gewählt haben."

Für Boris Johnson geht das Zittern weiter

Mit dem Rücken zur Wand zu stehen dürfte Boris Johnson – der als bester Wahlkämpfer seiner Partei gilt – inzwischen gewöhnt sein. Als Ende letzten Jahres die ersten Berichte über illegale Lockdown-Partys im Regierungssitz die Runde machten, sahen viele Kritiker schon seinen politischen Kopf rollen. Doch bis jetzt konnte er sich immer wieder aus scheinbar aussichtslosen Situationen herauskämpfen – auch weil es keinen geeigneten Ersatzkandidaten gibt.

So spricht auch diesmal für Johnson, dass das landesweite Wahlergebnis für die Tories nicht so schlimm ausfallen wird, wie befürchtet. "Die Partei hat nicht die Katastrophe erlitten, die den Druck so sehr erhöht hätte, dass Johnson zurücktreten müsste", erläuterte der Politologe Mark Garnett der Deutschen Presse-Agentur. Zudem konnten abseits von London meist die kleineren Liberaldemokraten von den Niederlagen profitieren – und nicht der größte Oppositionsgegner.

Im dortigen Lager dürfte am Freitag eine weitere Nachricht die Stimmung dämpfen: Labour-Chef Starmer steht nun selbst wegen eines möglichen Bruchs der Corona-Regeln im Fokus von Polizeiermittlungen. Die Polizei teilte überraschend mit, wegen neuer "bedeutsamer Informationen" eine Zusammenkunft in einem Labour-Büro im nordenglischen Durham im vergangenen Jahr genauer zu prüfen.

Dennoch steht fest, der Premier muss selbst Vertrauen zurückgewinnen. "Die wichtigste Botschaft der Wähler ist, dass wir uns um die Dinge kümmern sollen, die ihnen am wichtigsten sind", sagte Johnson am Freitag. Für ihn und seine Regierung heißt das, schnellstmöglich die Lebenskostenkrise in den Griff zu kriegen – und keine neuen Skandale loszutreten.

Hinweis: Dieser Artikel wurde mit den aktuellen Wahlergebnissen aktualisiert.

Quellen: "Guardian", "BBC", "NY Times", "Reuters", mit DPA-Material

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