Prozess gegen Dr. Ernst J. S. "Unsere Mutter wurde Opfer des Skandalarztes"

Waltraud M. lag wegen eines Schwächeanfalls im Wormser Klinikum. Der 78-Jährigen ging es schon besser, dann behandelte Ernst J.S. sie. Das Resultat: Querschnittlähmung. Jetzt klagen die Angehörigen.

In seiner Heimat nennen sie ihn "Doktor Frankenstein". Vom heutigen Montag an steht der Neurologe Dr. Ernst J.S. in einem der größten Medizinprozesse der Niederlande vor Gericht, weil er zahlreichen Patienten grundlos schwere Erkrankungen diagnostiziert haben soll.

Der umstrittene Arzt praktizierte bis Anfang 2013 auch an fünf Kliniken in Deutschland. Eine Patientin war nach einem Eingriff des Doktors am Rückgrat querschnittgelähmt. Ihre Angehörigen klagen in einem Zivilverfahren gegen das Klinikum Worms, das den Arzt beschäftigte. Erstmals sprechen sie gegenüber stern.de über die Leidensgeschichte ihrer Mutter und die Begegnung mit dem Arzt.

Gefunden auf dem Fußboden

Waltraud M.* war 78 Jahre alt. Ihr Rücken machte ihr Probleme, aber ansonsten war sie noch recht rüstig. Sie versorgte sich selbst, fuhr mit dem Auto zum Einkaufen und zu den Proben ihres Gesangvereins, regelmäßig bekochte sie ihre Enkelkinder. Doch an Silvester 2010, einem Freitag, fand ihre Enkelin die alte Dame auf dem Fußboden liegend, sie wirkte verwirrt und konnte nicht erklären, was passiert war. "Keiner wusste, wie lange sie da gelegen hatte", sagt Tochter Bettina*.

Im Klinikum Worms wurde die Rentnerin untersucht. Ihr Zustand besserte sich schnell, als sie Infusionen bekam. Schon am Neujahrstag wirkte sie "klar und orientiert". So steht es im Behandlungsprotokoll der Klinik. "Es war wahrscheinlich Flüssigkeitsmangel", erklärte am Montag der Stationsarzt, ein ergrauter Herr mit leichtem Akzent. Für Dienstag plane man noch eine Untersuchung im MRT, dann dürfe die Patientin voraussichtlich nach Hause. "Es war ein ganz normales Gespräch", sagt Sohn Martin.

Der Arzt sticht zu

Am Dienstag, kurz nach 14.30 Uhr, waren die Kinder wieder in der Klinik. Schon auf dem Flur irritierte sie lautes Wehklagen. Ihre Mutter lag im Bett, völlig außer sich. "Sie schrie, 'Bitte helft mir'." Der Doktor habe irgendwas an ihrem Rücken gemacht, sie mehrfach gestochen, sie wisse nicht, weshalb.

Die Kinder wollten den Stationsarzt sprechen. Erst hieß es, er sei beschäftigt, dann kam er doch noch. Er habe versucht, bei Waltraud M. Nervenwasser zu ziehen, um bestimmte Erkrankungen auszuschließen, das sei aber nicht gelungen, erklärte der Mediziner. Auf seine wimmernde Patientin habe er "total emotionslos" reagiert, sagt Martin M. Der Arzt verordnet Paracetamol und erklärte, dass Rückenschmerzen nach solch einem Eingriff normal seien.

Sie spürt ihre Beine nicht mehr

Doch Waltraud M. litt immer mehr, "der ganze Körper war außer Rand und Band", erinnert sich ihre Tochter. So kannten sie ihre Mutter nicht, die vier Kinder geboren hatte. "Sie ist kein wehleidiger Typ." Die Geschwister riefen nun viertelstündlich nach der Schwester. Dr. J.S. ließ sich nicht blicken, dafür verordnete die Oberärztin um 15.20 Uhr Beruhigungsmittel. Um 15.45 Uhr kam Dr. J.S. und gab nochmals ein Sedativum. Um 16.20 Uhr erbrach sich Waltraud M. vor Schmerz, bekam Vomex gegen das Erbrechen, später noch ein Schmerzmittel. Dann klagte Waltraud M., sie spüre ihre Beine nicht mehr. "Wir haben die Ärzte mehrfach darauf hin gewiesen", sagt ihr Sohn. Um 17.30 Uhr steht es auch im Protokoll: "Patientin kann Beine nicht bewegen."

Ein medizinischer Sachverständiger, beauftragt vom Landgericht Mainz, wird zweieinhalb Jahre später diesen Zeitpunkt als Wendepunkt in Richtung Katastrophe beschreiben. Denn spätestens jetzt hätten Dr. J.S und die Oberärztin "zwingend" handeln müssen, so der Gutachter. Denn jedem erfahrenen Arzt sei klar, dass es sich nicht um gewöhnliche Rückenschmerzen handle, sondern um den gefürchteten "spinalen Notfall", der ein Risiko jeder Lumbalpunktion ist. Eine Querschnittlähmung droht, die nur durch eine schnelle Operation verhindert werden kann. Zeitfenster: maximal zwölf Stunden.

Seit den missglückten Einstichen sind drei Stunden vergangen. Doch Dr. J.S. erkennt die Gefahr nicht – oder will sie nicht erkennen. Auch die Oberärztin, die den Aushilfsarzt nach Bekanntwerden des Skandals noch als "erfahrenen Mann" loben wird, sieht offenbar keinen Anlass zur Eile.

*Name der Familie geändert

Kinder werden aus der Klinik geworfen

Dafür reagieren die beiden Ärzte umso ungeduldiger auf die Angehörigen, berichten die Geschwister. Ihre Anwesenheit sei die Ursache für die Erregung der alten Frau, habe die Oberärztin behauptet. "Sie glauben doch nicht, dass wir jetzt gehen", entgegnet Tochter Bettina. Der Streit eskaliert, die Oberärztin fordert die Kinder auf, die Klinik zu verlassen. "Sie sagte, unsere Mutter werde eine Behandlung bekommen, sobald wir gegangen sind." Die Geschwister geben widerstrebend nach. "Unsere Mutter hat uns beide an der Hand festgehalten, sie wollte nicht, dass wir gehen."

Als die Tochter gegen 21 Uhr wiederholt auf der Station anruft, heißt es, die Mutter schlafe. Im Protokoll steht um 21.30 Uhr, sieben Stunden nach dem Eingriff des Skandalarztes: Die Patientin klage weiter über Schmerzen. Und: "Mobilisationsversuch klappt nicht."

Notoperation mit Risiko

Wäre Waltraud M. in jener Nacht am Rückgrat operiert worden, so wird der medizinische Gutachter später feststellen, hätte die Lähmung wohl verhindert werden können. Doch Stunde um Stunde verstreicht. Irgendwann schläft Waltraud M. - vollgepumpt mit Schmerzmitteln. Am nächsten Morgen spürt sie ihre Beine noch immer nicht. Mittags bitten Klinikmitarbeiter die Tochter telefonisch um ihre Unterschrift – die Mutter müsse zur Notoperation. Die Tochter ist entsetzt. Sie organisiert den Transport der Mutter in eine Nachbarklinik, Lorsch. Der Zustand von Wlatraud M. ist inzwischen sehr schlecht. Die Ärzte in Lorsch bereiten die Angehörigen darauf vor, "dass sie die OP möglicherweise nicht überstehen wird."

Am Abend wird sie operiert, sechs Stunden lang, die Spezialisten entfernen einen großen Bluterguss im Wirbelkanal, der die Nerven abdrückt. Doch die Lähmung lässt sich nicht mehr rückgängig machen.

Waltraud M. bleibt ein Pflegefall

Waltraud M. ist ein Schwerstpflegefall. Sie muss alle zwei Stunden anders gelagert werden, Windeln tragen. Ihre Kinder, beide berufstätig, sind in jeder freien Minute bei ihr. Doch die Mutter, die vorher ein selbständiger Mensch war, habe jeden Mut verloren, sagt die Tochter bedrückt.

Ein Bild ist ihr aus den folgenden Monaten besonders nachdrücklich in Erinnerung geblieben: Die Mutter, vermummt mit Haube und Mundschutz, allein in ihrem Krankenzimmer, zur Unbeweglichkeit gezwungen und völlig hilflos. Sie hatte sich auch noch einen Krankenhauskeim eingefangen und musste in Quarantäne. Zahlreiche Operationen folgten, einmal wurde versehentlich der Darm durchstoßen. "Es reihte sich eine demütigende Situation an die andere", sagt Michaela Bürgle, die Anwältin der Familie im Rechtsstreit gegen das Klinikum Worms. Noch bitterer ist für die Familie, dass der Eingriff des Dr. J.S. gar nicht notwendig war, wie der Gerichtsgutachter feststellte. Den Skandalarzt, der das Drama auslöste, werden die Angehörigen nicht wieder sehen. Doktor J.S., der keine Unterschrift seiner Patientin nachweisen konnte, verließ die Klinik kurz nach dem Vorfall – und tauchte kurz darauf an einem Krankenhaus in Heilbronn auf. Auch dort versuchte er sich an einer Punktion bei einer Patientin, die danach über heftige Schmerzen klagte.

Prozess gegen "Dr. Frankenstein"

Dass ihre Mutter ein Opfer von "Doktor Frankenstein" wurde, erfahren Bettina und Martin M. erst im Januar dieses Jahres, als der Skandal publik wird. Es sei unbegreiflich, sagt Martin M., "dass ein Arzt im Nachbarland so viel verbrochen hat und hier kann er einfach weiter behandeln."

Am 10. März dieses Jahres stirbt Waltraud M. an den Folgen einer Thrombose. Voraussichtlich am 26. November wird ihr Fall vor einer Zivilkammer am Landgericht Mainz verhandelt, allerdings ohne den Arzt, der das Leben der Mutter "zu einem Alptraum" machte, wie die Tochter sagt – und sie hilflos, erschöpft und traumatisiert zurückließ. Doktor J.S. steht zeitgleich in den Niederlanden vor Gericht. Er hatte all die Jahre geschwiegen, doch zum Prozessbeginn schrieb er nun überraschend einen Brief an seine ehemaligen Patienten und erklärte sich für "moralisch schuldig".

Späte Reue? Die Kinder von Waltraud M. haben Zweifel. Der Arzt habe keinerlei Mitgefühl für ihre Mutter gezeigt. Seine einzige erkennbare Emotion im Krankenzimmer: Ärger. "Er wirkte gekränkt, weil sein Eingriff nicht geklappt hatte. Er hatte wohl vor allem mit sich selbst zu tun."

Der Geschäftsführer des Klinikums Worms, Friedrich Haas, erklärte gegenüber stern.de, er könne sich nicht zu den medizinischen Abläufen äußern. Allerdings weise er die Kritik zurück, dass die Klinikaufsicht in diesem Fall versagt habe. Dr. J. habe eine Approbation gehabt und den Nachweis als Facharzt erbracht. In Worms habe er an der Behandlung von etwa 400 Patienten mitgewirkt. "Wir können nicht sagen, dass der Arzt – außer in diesem Fall - negativ aufgefallen wäre. Ansonsten hat er bei uns gute Arbeit geleistet."

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