Crime Story Der unglaublich nette Dr. Shipman

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  • von Antje Joel
Harold Shipman war dafür bekannt, dass er sich viel Zeit für die Kranken nahm. Manchen aber nahm er das Leben.
Harold Shipman
Dr. Harold Shipman war extrem beliebt bei seinen betagten Patientinnen
© Reuters

Der perfekte Familiendoktor. Überall im Ort geschätzt. Von seinen Kollegen geachtet. Von den Patienten geliebt. Und verehrt. Einer, der stets ein persönliches Wort für dich hat. Der sich Zeit für dich nimmt. Mehr als die praxisüblichen, fließbandgleichen sieben Minuten. Einer, der in den frühen Morgenstunden oder nach Praxisschluss zu dir nach Hause kommt. Wenn du ihn zu einer Asthmaattacke oder zu einer plötzlichen Geburt im Badezimmer rufst. Oder er besucht dich an einem Sonntagmittag überraschend. Um nach dir zu sehen.

Derek Moore* (alle Namen mit * geändert), dessen Familie über 20 Jahre zu Harold Frederick Shipmans Patienten gehört hatte, sagte später: „Er schien einfach all diese Extradinge für dich zu tun, anders als andere Ärzte. Als beispielsweise mein Vater plötzlich starb, wäre es mir nie in den Sinn gekommen, Shipman anzurufen. Aber er kam noch an dem Abend vorbei, um zu sehen, wie es mir ging und ob er etwas für mich tun könne. Ich hielt das für erstaunlich aufmerksam und liebenswert.“ Sechs Jahre darauf, bei der Beerdigungsfeier von Derek Moores Mutter, baten die Moores, von Blumenspenden abzusehen und stattdessen das Geld an Shipmans Praxis zu spenden. Als Ausdruck der Dankbarkeit für seine Fürsorge. Und ihrer Erleichterung darüber, dass Margaret Moore*, als sie, gesunde 81 Jahre alt, überraschend zu Hause verstorben war, in ihren letzten Minuten den vertrauten Arzt bei sich gehabt hatte.

Als Shipman im September 1998 verhaftet wurde und Moore und seine Frau Bernice* in der Zeitung lasen, dass ihr Familiendoktor im Verdacht stehe, 20 seiner Patienten ermordet zu haben, rief die sonst so besonnene Grundschullehrerin wutentbrannt in der Redaktion an: „Diese Anschuldigungen haben weder Hand noch Fuß, Sie betreiben eine Hexenjagd!“ Viele Patienten fühlten wie sie. Die Wände von Shipmans Wartezimmer waren mit Karten ihrer Anteilnahme und des Zuspruchs bedeckt.

Erschienen in stern Crime 37/2021