70 Zentimeter lang ist der Plastikschlauch, den der Arzt Igor V. Laya-Alama Conde durch die Nase in den Magen schiebt. Der 35-jährige Mann aus Sierra Leone sitzt auf einem Untersuchungsstuhl im Bremer Polizeipräsidium. Ein kalter Raum mit gekachelten Wänden. Seine Füße sind mit Kabelbindern fixiert. Die Arme mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Der Schwarzafrikaner wimmert und stöhnt, wirft seinen Kopf hin- und her. Ein Polizeibeamter drückt seinen Hinterkopf gegen die Rückenlehne des Stuhls. Eine Stunde und 26 Minuten lang flößt Igor V. dem Afrikaner Brechmittel und Wasser ein. Conde fällt ins Koma. Und stirbt elf Tage später.
Zwei Mal musste sich der Arzt Igor V. wegen Körperverletzung mit Todesfolge vor dem Landgericht Bremen verantworten. Zwei Mal sprachen ihn die Richter frei. Beide Male hob der Bundesgerichtshof die Freisprüche auf. Ab diesem Dienstag sitzt Igor V. zum dritten Mal auf der Anklagebank.
Der Brechmitteleinsatz sei "menschenunwürdig" und "ganz und gar unerträglich gelaufen", urteilten die BGH-Richter. Tatsächlich liest sich das, was in jener Nacht zum 27. Dezember 2004 im Bremer Polizeipräsidium geschah, wie das Protokoll einer Folter.
Wenige Minuten nach Mitternacht hatte sich Conde an der Sielwallkreuzung, einem bekannten Drogenumschlagplatz, vor den Augen zweier Polizisten mehrmals hastig etwas in den Mund gesteckt und es hintergewürgt. Die Beamten vermuten, dass Conde ein Dealer ist, der in Plastik eingeschweißtes Kokain verschluckt hat. Sie nehmen ihn fest, bringen ihn ins Polizeipräsidium. Um 1.20 Uhr spült Igor V. vom "ärztlichen Beweissicherungsdienst" Conde das Brechmittel "Ipecacuanha" in den Magen.
Weißer Schaum tritt aus seinem Mund
Nach zehn Minuten erbricht sich der Afrikaner. Er beißt die Zähne zusammen. Ein Kokain-Kügelchen rutscht durch eine Zahnlücke. Laya-Alama Conde ist des Drogenbesitzes überführt. Um ihm allerdings auch den Handel mit Drogen nachweisen zu können, brauchen die Polizisten mehr Kügelchen. Igor V. flößt dem Gefesselten noch mehr Wasser ein.
Plötzlich, um 1.50 Uhr, sackt der Afrikaner zusammen, wirkt apathisch. Weißer Schaum tritt aus seinem Mund. Das Messgerät, das die Sauerstoffsättigung seines Bluts überwacht, zeigt keine Werte mehr an. Um 1.54 Uhr geht der Notruf bei der Feuerwehr ein.
Um kurz nach zwei Uhr kommt ein Notarzt mit zwei Sanitätern. Conde gibt unverständliche Laute von sich, atmet schwer. Seine Pupillen sind klein wie Stecknadelköpfe. Doch als der Notarzt den Sauerstoffgehalt in seinem Blut misst, zeigt das Gerät normale Werte. "Schwarzafrikaner" würden "häufig simulieren und sich tot stellen", sagt Igor V. laut Zeugenaussagen. Er vergewissert sich beim Notarzt, ob er weitermachen könnte. Der Notarzt bejaht. Igor V. bittet ihn zu bleiben. Für alle Fälle. Der Notarzt setzt sich auf einen Stuhl und füllt seinen Einsatzbericht aus.
Um 2.10 Uhr flößt Igor V. Conde wieder Wasser ein. Der Schwarzafrikaner erbricht zwei weitere Kügelchen. Trotzdem kippt Igor V. Conde noch mehr Wasser in den Rachen. Als der Brechreiz langsam verebbt, nimmt der Arzt einen kleinen Spatel. Polizeibeamte reißen Condes Ober- und Unterkiefer auseinander. Abwechselnd steckt Igor V. dem Schwarzafrikaner nun den Spatel und eine Pinzette tief in den Rachen.
Im Rachen steht das Wasser
Plötzlich, um 2.36 Uhr, nur wenige Minuten, nachdem Igor V. zum Holzspatel gegriffen hat, hängt Conde schlaff im Stuhl und atmet kaum noch. Drei Atemzüge pro Minute, misst das Gerät. Sein Herz schlägt 34 Mal in der Minute. Normal sind 60 bis 80 Herzschläge. Conde ist bewusstlos, seine Pupillen sind lichtstarr.
Jetzt springt der Notarzt auf, versucht, Conde künstlich zu beatmen. Doch im Rachen des Afrikaners steht das Wasser. Mit einer Elektropumpe muss der Notarzt das Wasser absaugen. Er pumpt etwa einen Liter ab, bevor er Conde um 2.40 Uhr intubieren kann. Der Notarzt legt dem Bewusstlosen eine Magensonde, über die ein weiterer Liter Wasser abläuft.
Gegen 3.12 Uhr wird der Afrikaner in die Klinik abtransportiert. Das Röntgenbild zeigt ein Lungenödem, also eine Wasserlunge. Am nächsten Tag ist eine schwere Hirnschädigung zu erkennen. Am 7. Januar 2005 – elf Tage nach seiner Festnahme - wird Laya-Alama Conde für tot erklärt. "Schwerstkriminelle" hätten halt mit "körperlichen Nachteilen zu rechnen", sagt Innensenator Thomas Röwekamp (CDU) nach dem Tod des Afrikaners.
BGH hebt Freisprüche zwei Mal auf
Das Ermittlungsverfahren gegen den Notarzt wird eingestellt. Ende April 2006 erhebt die Staatsanwaltschaft Bremen Anklage gegen Igor V. Doch erst knapp zwei Jahre später, im April 2008, sitzt der Arzt das erste Mal vor Gericht.
Nach 24 Verhandlungstagen sprechen die Richter ihn frei. Conde sei zwar durch "stilles Ertrinken" gestorben und hätte überlebt, wenn Igor V. die Brechmittelvergabe früher abgebrochen hätte. Doch aufgrund seiner mangelnden Erfahrung hätte der Arzt Condes Tod nicht vorhersehen können, urteilen die Richter. "Freispruch wegen Unfähigkeit", höhnt die Presse.
"Ich war erschüttert", sagt die Anwältin Elke Maleika, die Condes Familie vertritt. "Der Arzt hatte erhebliche Fehler gemacht, die zumindest teilweise zum Tode geführt haben. Das hätte eigentlich zu einer Verurteilung führen müssen." Das sieht auch der BGH so und hebt den Freispruch auf.
Doch auch im zweiten Prozess sprechen die Richter Igor V. im Juni 2011 frei. Diesmal zweifeln sie nicht an der Kompetenz des Arztes, sondern an der Todesursache. Conde hatte einen unentdeckten Herzfehler, der seinen Tod möglicherweise mit verursacht hat. Die Richter laden neun Gutachter vor, darunter Prof. Püschel vom Institut für Rechtsmedizin Hamburg. Dort war 2001 der 19-jährige Asylbewerber Michael Nwabuisi bei der Brechmittelvergabe ums Leben gekommen. Nwabuisi hatte einen Herzfehler. Das Verfahren gegen die Ärztin, die ihm das Brechmittel einflößt hatte, wurde deshalb eingestellt. Püschel vertritt im Prozess gegen Igor V. nun die Auffassung, dass auch Conde Opfer seines Herzfehlers geworden sei. Die Richter folgen seiner Argumentation und sprechen Igor V. ein zweites Mal frei.
Wieder legt Maleika Revision ein. Die Anwältin will nicht hinnehmen, dass "da ein Mensch im Polizeigewahrsam bei einer staatlichen Zwangsmaßnahme auf grausame Art zu Tode gekommen ist und keiner dafür zur Verantwortung gezogen wird." Wieder gibt ihr der BGH Recht.
Igor V. schweigt bis heute
Vielleicht redet Igor V. jetzt, im dritten Prozess. Bisher hat sein Anwalt lediglich eine Erklärung für ihn vorgelesen. Igor V. bedaure den Tod des jungen Mannes, der "in seinem Leben tiefe Spuren hinterlassen" habe. Gleichwohl habe er "auf der Basis der damaligen Rechtsauffassung" gehandelt. Tatsächlich war die Brechmittelvergabe in Bremen politisch gewollt. "Ein kleiner Arzt soll jetzt die Suppe auslöffeln, die die Politik angerührt hat", sagt sein Anwalt Erich Joester.
Ex-Kollegen beschreiben Igor V. – einen mittelgroßen Mann mit Brille und Glatze - als "unsicheren Menschen, der lieber zwei Mal nachfragte, um ja keine Fehler zu machen". Einer, der sich "nie und nimmer mit der Polizei angelegt hätte". "Obrigkeitstreu" sei er gewesen.
Igor V. ist in Kasachstan geboren, einem Land, das erst 1991 seine Unabhängigkeit von Russland erklärt hat und in dem noch heute Oppositionelle verhaftet werden. In seinem Lebenslauf steht, dass er nach zehn Schuljahren zum Militär ging und Medizin studierte. Danach arbeitete Igor V. eigenen Angaben zufolge bei einem staatlichen Institut als Gerichtsmediziner, bevor er 1993 nach Deutschland kam. Ein paar Monate nach Condes Tod fand er eine neue Stelle, arbeitete mit drogensüchtigen Migranten. Derzeit macht Igor V. seinen Facharzt, will Psychiater werden. Wenn er jetzt verurteilt wird, könnte er seine Approbation verlieren.
Bei Conde wurden durch Erbrechen und Obduktion insgesamt sieben haselnussgroße Kügelchen Kokain sichergestellt. Verkaufswert auf der Straße: Etwa 140 Euro. Der Afrikaner, der nicht vorbestraft war, wäre vermutlich mit einer Bewährungsstrafe davon gekommen. Wenn er die Nacht im Polizeigewahrsam überlebt hätte.
In Bremen wartet die Polizei inzwischen, bis Dealer ihre Ware auf natürlichem Wege ausscheiden.