Zwei Männer – ein renommierter britischer Journalist und ein brasilianischer Experte für indigene Völker – sind spurlos in den entlegensten Winkeln des Amazonas verschwunden. Kurz zuvor sollen sie von einem illegalen Fischer bedroht worden sein. Die Suche nach Dom Phillips und Bruno Araújo Pereira läuft, die Behörden rätseln, die Familien sind verzweifelt. Die Hoffnung, die beiden lebend zu finden, schwinden mit jedem Tag.
Phillips und Pereira: auf der Rückfahrt im Amazonas verschollen
Der 57-jährige Phillips, der seit mehr als 15 Jahren als freier Journalist unter anderem für den britischen "Guardian" und die US-Zeitungen "New York Times" und "Washington Post" aus Brasilien berichtet, gilt seit Montag als vermisst. Gemeinsam mit dem 41 Jahre alten Pereira, einem ehemaligen brasilianischen Regierungsbeamten, der mit dem Schutz isolierter Amazonas-Stämme betraut ist, sei er für ein Buchprojekt in die entlegenen Flussläufe und Regenwälder des riesigen Javari-Tals im Bundesstaat Amazonas gereist, nahe der peruanischen Grenze.
Laut ihren indigenen Kontaktleuten, so berichtet der "Guardian", sind die beiden per Boot abgereist und haben am Freitagabend ihr Ziel, den Lago do Jaburu, erreicht.

Ein Jahr zuvor hatte sich der Journalist für eine Reportage über die verlorenen Stämme des Amazonas für den "Guardian" dem Experten Pereirea auf einer Expedition angeschlossen.
Am Sonntag, zwei Tage nach ihrer Ankunft, hätten sie ihre Rückfahrt antreten sollen – die eigentlich nicht mehr als drei Stunden hätte dauern können. Laut BBC sahen die Bewohner der kleinen Gemeinde São Gabriel Phillips und Pereira noch in ihrem Boot stromabwärts fahren. Als von den beiden auch nach acht Stunden nichts zu sehen war, sei ein Suchttrupp losgeschickt worden. Der blieb allerdings erfolglos, genau wie spätere, von Indigenen und Umweltaktivisten organisierten Gruppen.
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Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro macht offenbar Vermisste selbst mitverantwortlich
"Wir brauchen eine dringende Suchaktion. Wir brauchen die Polizei, wir brauchen die Armee, wir brauchen die Feuerwehr, wir brauchen den Zivilschutz. Wir haben keine Zeit zu verlieren", sagte Beto Marubo, ein bekannter Anführer lokaler Indigener dem "Guardian" zufolge. Die britische Zeitung selbst sei "sehr besorgt" und stünde mit der britischen Botschaft in Brasilien sowie nationalen und lokalen Behörden in Kontakt.
Bundespolizisten aus Manaus, der Hauptstadt des Bundestaates Amazonas, arbeiteten an dem Fall; die Marine habe ein zehnköpfiges Team zum letzten bekannten Aufenthaltsort der Männer entsandt. Doch Forderungen, wonach sich die brasilianische Armee an der Suche beteiligen müsse, seien bislang unerfüllt geblieben. Denn die warten auf die Genehmigung von ganz oben. "Wir warten darauf, dass eines der zuständigen Ministerien tätig wird", habe ein Militärsprecher lediglich erklärt. Weil die Suche nicht an Fahrt aufnehme, habe eine indigene Rechtsgruppe bereits Klage eingereicht, um schnelle Hilfe anzufordern, berichtet die "Washington Post".
Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zeigte sich besorgt und forderte die Behörden zum Handeln auf. Brasiliens ehemaliger Präsident Luiz Inácio Lula schrieb auf Twitter: "Phillips interviewte mich für den 'Guardian' im Jahr 2017. Ich hoffe, dass sie bald gefunden werden und dass sie sicher und gesund sind."
Brasiliens derzeitiger Präsident, Jair Bolsonaro, so schreibt die "Washington Post", schiebt die Schuld offenbar auf die Vermissten selbst: "Zwei Personen in einem Boot, in einer völlig wilden Region wie dieser, ist ein Abenteuer, das man nicht machen sollte." Schließlich könne "alles Mögliche passieren".
Drohungen von Wilderern: "Sie wurden mit Sicherheit angegriffen"
Phillips Familie hat inzwischen mehrfach verzweifelt an die Behörden appelliert, wie die BBC berichtet. "Im Wald zählt jede Sekunde, jede Sekunde könnte den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen", so Alessandra Sampaio, Phillips Ehefrau. In der Erklärung habe die Familie ihre Hoffnung geäußert, dass ihr Verschwinden auf eine Panne ihres Bootes zurückzuführen ist. Doch das ist unwahrscheinlich: Treibstoff hatten sie Medienberichten zufolge ausreichend an Bord, ortskundig waren sie beide und im Fall einer Transportpanne wären sie wohl längst gefunden worden.

Der westliche Teil des Bundesstaates ist laut "Washington Post" eine "gesetzlose Region". Unter Präsident Bolsonaro hat im Amazonasgebiet illegaler Bergbau, Fischerei und Jagd zugenommen, kriminelle Banden plündern Ressourcen und zerstören Wälder. Die ansässigen indigenen Völker, so die "New York Times", haben inzwischen damit begonnen, ihre Gebiete eigenständig zu sichern – was wiederum den Konflikt mit Plünderern verschärft hat.
"Sie wurden mit Sicherheit angegriffen", sagte Eliesio Marubo, Anwalt der Union der indigenen Völker des Javari-Tals, gegenüber der US-Zeitung. Ob von Wilderern oder Indigenen ist eine andere Frage.
Nach Angaben der NGO Instituto Socioambiental leben in der Region rund 6300 Indigene aus 26 verschiedenen Gruppen, 19 von ihnen ohne Kontakt zur Außenwelt. Die seien in den vergangenen Jahren aggressiver geworden – vor allem nach dem Mord am indigenen Schutzbeauftragten Maxciel Pereira dos Santos im Jahr 2019.
Wie die "New York Times" schreibt, sind gewaltsame Auseinandersetzungen im Amazonasgebiet zwar nicht ungewöhnlich, beschränken sich in der Regel aber auf Kämpfe der Einheimischen untereinander. Daten zufolge wurden zwischen 2009 und 2020 139 Umweltaktivisten getötet – Journalisten oder Regierungsbeamte seien aber sehr selten unter den Opfern gewesen.
Phillips und Pereira sollen in Kontakt mit Orlando Possuelo, einem Aktivisten für die Rechte indigener Völker, gestanden haben. Possuelo zufolge seien die beiden mit einem illegalen Fischer aneinandergeraten. Die Auseinandersetzung mit dem offenbar bewaffneten Mann sei auf Film festgehalten und den Behörden vorgelegt worden, wie die "Washington Post" berichtet. Possuelo sei selbst auf die Suche nach den Vermissten gegangen. Dabei hätten ihm Indigene berichtet, dass sie kurz zuvor das Boot ebnen jenes Fischers gesehen hätten. "Und von da an hatte ich keine Hoffnung mehr", so Possuelo gegenüber der Zeitung.
Verdächtiger Fischer festgenommen
Am Mittwoch sollen brasilianische Behörden einen Verdächtigen festgenommen haben. Sechs Menschen seien befragt und einer festgenommen worden, sagten Polizei- und Militärvertreter bei einer Pressekonferenz. Es sei allerdings noch unklar, ob der Verdächtige direkt mit dem Fall in Verbindung stehe. Laut "New York Times" handle es sich dabei um einen der Fischer, der Phillips und Pereira bedrohte.
Den Ermittlern zufolge wurde der Verdächtige bei einer zufälligen Kontrolle festgenommen, er habe Drogen und Patronen für ein Sturmgewehr bei sich getragen. Zeugen gaben demnach an, den Mann gesehen zu haben, wie er das Boot von Phillips und Pereira verfolgte. Aber "wir haben bis jetzt keine Verbindung zwischen ihm und dem Verschwinden hergestellt", sagte der Polizeichef des Bundesstaates Amazonas, Carlos Mansur.
Quellen: "The Guardian"; "Washington Post"; BBC; "New York Times"; mit AFP