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Tihange und Doel Angst vor den "Bröckelreaktoren" an deutscher Grenze - so gehen Bürger gegen belgischen Staat vor

Auf einer weißen Schachtel mit dünnem grünen Rand liegt ein Blister mit sechs Jodtabletten
Jod gibt es in einer gesunden - etwa im Speisesalz - und in einer radioaktiven Form. Bei einem Atom-Unfall kann radioaktives Jod aus dem betroffenen Reaktor austreten. Alles Jod im Körper wandert in die Schilddrüse. Radioaktives Jod würde dort rund 120 Tage strahlen und die Schilddrüse schädigen. Das kann zu Krebs führen. Sind die Speicher der Schilddrüse mit nicht-strahlendem Jod gefüllt, scheidet der Körper das radioaktive Jod aus. Diese "Jod-Blockade" ist deshalb bei Atomunfällen entscheidend. Die Jod-Tabletten für Katastrophenfälle enthalten etwa die 1000-fache Menge Jod. Sie sollte nicht mit Jod-Tabletten für Schilddrüsen-Kranke verwechselt werden. Besonders wichtig ist der Schutz für Säuglinge, Kleinkinder und Kinder. Bei ihnen ist die Schilddrüse besonders empfindlich und die steuert das Wachstum. Jod-Tabletten müssen kurz vor oder kurz nach dem Einatmen des radioaktiven Jods eingenommen werden. Nur dann schützen sie optimal.


Ausführliche Informationen zu Jod-Tabletten und ihrer Einnahme bei einem Atom-Unfall finden Sie unter www.jodblockade.de, einer Informationsseite des Bundesumweltministeriums.

Die sogenannten "Bröckelreaktoren" treiben die Menschen in der deutsch-belgisch-niederländischen Grenzregion weiter um. Am Wochenende wurden in einer Aktion 250 Anzeigen gestellt. Weitere Protestaktionen sind geplant.

Julie Vandegaar lächelt, obwohl es für ihren Polizeibesuch im Eupener Kommissariat keinen Grund zur Freude gibt. Sie will Anzeige gegen den belgischen Staat und die Kernkraftwerke Tihange und Doel erstatten. "Es geht um meine Zukunft, ich will hier in der Region weiterleben können", sagt die 19-Jährige. Ähnlich sieht das Beate Haupt aus Aachen: "Ich habe Tschernobyl erlebt, ich habe Fukushima erlebt. Vielleicht werde ich nicht mehr Tihange oder Doel mitbekommen, aber was ist mit meiner Tochter und meinen Enkeln?" An die hundert Menschen stehen am vergangenen Samstag laut dem trinationalen Bündnis "Stop Tihange" im Hinterhof der Polizeistation der Stadt im deutschsprachigen Teil Belgiens Schlange. Am Ende werden hier 176 Menschen Anzeige erstattet haben; in Tongeren und Namur kommen nochmal 65 dazu. "Wir sind von der Resonanz überrascht", zitiert die Aachner Zeitung Daniel Baltus, Leiter der Polizeistelle.

Seit Jahren stehen die beiden Kernreaktoren Tihange 2 nahe Lüttich und Doel 3 kurz vor der niederländischen Grenze wegen Tausender Haarrisse an den Behältern vehement in der Kritik. Aufsehen erregte zuletzt die Meldung, dass die Regierung in Brüssel für jeden Belgier Jodtabletten für den Fall eines Gau bereithalte; auch im nahe gelegenen Aachen gibt es einen Vorrat. Schon 2003 hatte die belgische Regierung auf Druck der Grünen den Atomausstieg beschlossen. Seit die Partei aber nicht mehr in der Koalition ist, hat sich kaum mehr etwas getan. Anfang April bestätigte die belgische Regierung: Bis spätestens 2025 sollen alle sieben Kernreaktoren abgeschaltet sein.

Tihange und Doel für Energieversorgung essenziell

Doch dagegen sträubt sich die größte Partei im Parlament, die Neu-Flämische Allianz (N-VA), die die Unabhängigkeit Flanderns von Belgien anstrebt. "Die Abschaltung aller Kernkraftwerke bis 2025 kostet die Belgier jährlich zwischen 1 und 1,8 Milliarden Euro zusätzlich", sagt Andries Gryffroy, N-VA-Abgeordneter im Flämischen Parlament. Er wirbt für Tihange und Doel: "Erschwinglichkeit, Energiesicherheit, Nachhaltigkeit."

Die beiden Kernkraftwerke scheinen tatsächlich für die Energieversorgung Belgiens essenziell zu sein: Tihange und Doel produzieren nach Angaben des Wirtschaftsministeriums mehr als die Hälfte des Stroms. Im Vergleich zu den Deutschen nehmen die Belgier ihre Kernkraftwerke und deren Mängel gelassener hin - mit wenigen Ausnahmen. Ende Februar machte der Stadtrat in Lüttich Schlagzeilen, als er einem Antrag für die sofortige Schließung von Tihange 2 und Doel 3 fast einstimmig zustimmte.

"Vorboten"-Ereignisse verstärken Angst

Derweil machen die Grenzregionen und internationale Organisationen weiter mobil gegen die Reaktoren. Tihange 2 verletze international anerkannte Sicherheitsmaßstäbe, so jüngst das Atomexperten-Netzwerk Inrag. Die Herkunft der Risse im Reaktordruckbehälter sei nicht mit ausreichender Sicherheit geklärt. "Ein Reaktorbehälter darf nicht kaputtgehen. Wenn er kaputtgeht, gibt es keine Sicherheitssysteme, die das auffangen", sagt Wolfgang Renneberg, früherer Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium.

Anfang Februar bestätigte die belgische Atomaufsicht (FANC) acht sogenannte "Precursor"-Fälle (deutsch: Vorbote) in Tihange 1 zwischen 2013 und 2015. Ein Sprecher erklärte aber, daraus könnten keine Rückschlüsse auf die Sicherheit des Meilers gezogen werden. "Da wird ein Zusammenhang hergestellt, aber es gibt keinen."

Betreiber Engie Electrabel betont, dass die Wiederinbetriebnahme der beiden Reaktoren nach einer umfangreichen wissenschaftlichen Analyse durch unabhängige Experten genehmigt worden sei. Tihange 2 war nach Entdeckung von Haarrissen 2014 wegen Sicherheitsbedenken abgeschaltet worden, ging aber 2015 wieder ans Netz. Die Risse seien zwar "marginal mechanischen Belastungen" ausgesetzt, hätten aber "keinen negativen Einfluss auf die strukturelle Unversehrtheit des Reaktorgefäßes".

Nachbarländer erhöhen Druck - bisher vergebens

Während die Atomkraftwerke weiter Energie produzieren, wird der Druck der Nachbarländer auf Brüssel größer. Im vergangenen Jahr hatte das niederländische Parlament gefordert, vor allem das Pannen-Kraftwerk Tihange so schnell wie möglich zu schließen. Dieses Votum hatte die Regierung auch an Brüssel weitergegeben. Die Regierung rechne fest damit, dass Belgien die Pannen-Kraftwerke spätestens 2025 schließt.

Auch die Bundesregierung hatte Zweifel an der Sicherheit bei einem möglichen Störfall und bat das Nachbarland, Tihange 2 vorerst vom Netz zu nehmen. Die belgische Atomaufsicht sah aber bisher keinen Grund dafür. Jüngst forderte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) die Abschaltung des Pannen-Reaktors: "Je schneller, desto besser." Bislang scheiterte er damit.

Menschenkette im Juni soll Eindruck machen

Die große Resonanz auf die Anzeigen-Aktion von "Stop Tihange" belegt aber ein weiteres Mal die große Sorge, in der die Menschen in der deutsch-belgisch-niederländischen Grenzregion leben. Gehört wird die Sorge von den belgischen Behörden kaum. Jörg Schellenberg Aktionsbündnis spricht am Samstag daher auch von der "Wut", die man zeigen wolle.

Ein weithin sichtbares Zeichen des grenzübergreifenden Protestes soll es im Juni geben. Dann soll eine Menschenkette von Aachen über die Provinz Limburg bis nach Tihange gebildet werden. Rund 50.000 Menschen werden dazu notwendig sein, und diese Anzahl wird auch erwartet. Zuvor soll am 10. Mai aus Anlass der Verleihung des renommierten Karlspreises in Aachen demonstriert werden. Ausgezeichnet wird der französischen Staatspräsident Emmanuel Macron für seine Verdienste um die Europäische Gemeinschaft. Nach Ansicht von "Stop Tihange" könnte sich Macron ganz konkret eines europäischen Anliegens annehmen. Der französische Staat ist nach Angaben des Aktionsbündnis der größte Anteilseigner an Tihange.

dho DPA

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