Es ist 6.30 Uhr, als die Hoffnung erlischt. Eine Passantin wählt am Montagmorgen den Notruf: Sie habe einen leblosen Körper in der Hamburger Hafencity entdeckt. Als die Feuerwehr ausrückt, dürften die Rettungskräfte bereits einen leisen Verdacht gehabt haben, um wen es sich dabei handelt. In der Jackentasche des Leichnams befindet sich ein schottischer Führerschein, die Klamotten kommen einem bekannt vor. Die Polizei Hamburg spricht zunächst von "ersten Anhaltspunkten", später von "mehreren Hinweisen". Der Leichnam wird zum Zwecke einer Untersuchung ins Institut für Rechtsmedizin transportiert.
Gegen 11 Uhr bestätigt die Hilfsorganisation "Lucie Blackman Trust", was die Polizei noch untersucht, Angehörige und Freunde vielleicht schon geahnt haben und bis zuletzt nicht wahrhaben wollten: Liam Colgan ist tot.
Es ist das tragische Ende einer hoffnungsvollen Suchaktion, dessen Ausgang natürlich das Gegenteil beweisen sollte: Liam Colgan, der Anfang Februar beim Junggesellenabschied seines Bruders beinahe spurlos verschwand, ist noch am Leben. Er könnte sein Gedächtnis verloren haben. Durch die Hansestadt irren. Vielleicht die Bahn ins Hamburger Umland genommen haben. In Gärten oder Schuppen ausharren. Erklärungen und Mutmaßungen, die Liams Familie Hoffnung geschenkt haben.
Bis zuletzt. "Liams Familie möchte allen für die 'unglaubliche Unterstützung' bedanken, die sie bekommen hat", lässt die Hilfsorganisation "Lucie Blackman Trust" im Namen der Familie mitteilen. Es ist vorbei.
Der Beginn einer hoffnungsvollen Suche
Der 9. Februar beginnt als guter Tag. Eamonn Colgan, 33, feiert seinen Junggesellenabschied. Seine Brüder und 16 Freunde wollen es krachen lassen. Liam ist sein "best man", sein Trauzeuge. Er hat die Fäden für die Feierlichkeiten in der Hand. An diesem Tag fließt vermutlich viel Alkohol. Offenbar zu viel: Am 10. Februar, gegen 1.30 Uhr, verlässt Liam Colgan den "Hamborger Veermaster", ein Traditionslokal am westlichen Ende der legendären Reeperbahn. Er sei kurz vor der Clique gegangen, erinnert sich Bruder Eamonn. Danach fehlt von Liam zunächst jede Spur. Alan Pearson, einer der Mitreisenden, wird später im Gespräch mit der BBC sagen: "Das ist überhaupt nicht Liams Art, einfach so zu verschwinden. So etwas ist vorher noch nie passiert." Die Gruppe beginnt daher noch in der Nacht, in den Straßen rund um das Hamburger Rotlichtviertel nach dem 29-Jährigen zu suchen – ohne Erfolg.
Videokameras des Verlagsgebäudes Gruner + Jahr am Baumwall, unweit vom Hamburger Hafen entfernt, zeichnen Liam in dieser Nacht auf. Er ist offenbar vom Hamburger Kiez zu Fuß gelaufen, ein Weg von rund 25 Minuten. In dieser Nacht herrschen Minusgrade. Die Bilder zeigen ihn, offenbar dünn gekleidet, mit einem Passanten. Er soll ihm geholfen haben, nachdem Liam gestürzt war. Anschließend entfernt sich der Vermisste in Richtung Michelwiese und geht wenig später ins Portugiesenviertel. Wo steckt Liam?
"Wir wussten, dass etwas nicht stimmte"
Das kann zu diesem Zeitpunkt niemand sagen. "Als er nicht zu den Aktivitäten kam, die er am Samstagnachmittag geplant hatte, wussten wir, dass etwas nicht stimmte", erinnert sich Pearson. Die Schotten entscheiden sich schließlich dafür, die Hamburger Polizei einzuschalten. Die Beamten nehmen den Fall sofort ernst, setzen unter anderem Spürhunde ein und werten die Videoaufnahmen aus. Die Ermittlungen laufen jedoch ins Leere.
Bis heute, seit der verhängnisvollen Nacht, gehen bei der Polizei Hamburg insgesamt 70 Hinweise ein. Etwa, dass sogenannte Maintrailhunde seine Fährte aufgenommen hätten. Oder, dass Liam in Hamburg und Buxtehude (Niedersachsen) gesehen wurde. Die Beamten gehen allen Spuren nach. Auch hier: ohne Erfolg.
Doch Liams Angehörigen und Freunde geben nicht auf. Einige bleiben zunächst in Hamburg, um die Suche nach dem 29-Jährigen fortzusetzen. Auf der Crowdfunding-Plattform "Gofundme" wird um Spenden für den ungeplanten Aufenthalt gebeten. Hoffnung scheint bei allen Suchenden das höchste Gut und größter Antrieb zu sein - nicht zuletzt durch die Meldungen, Liam sei womöglich gesehen worden. "Wir glauben fest daran, dass Liam irgendwo da draußen ist", wiederholt Bruder Eamonn in den Wochen der Ungewissheit beinahe gebetsmühlenartig.
"Help find Liam Colgan"
Auf Facebook gründen Angehörige und Freunde eine öffentliche Gruppe mit dem Namen "Help find Liam Colgan", knapp 24.000 Menschen verfolgen jedes Update. Es werden öffentliche Suchaktionen organisiert, bei denen kleine Gruppen durch Hamburg ziehen und während ihrer Suche Plakate von Liam aufhängen. In einem Gruppenbeitrag schreiben sie: "Wir wissen nicht und können uns nicht erklären, wo Liam sich zur Zeit befindet. Die Ungewissheit ist sehr schwer zu ertragen." Doch sei man optimistisch, dass man Fortschritte bei der Suche machen werde. "Wir bitten Sie von ganzem Herzen auch weiterhin aufmerksam zu sein. Nicht nur im Bereich Hamburg und Buxtehude. Sollten Sie leer stehende Gebäude, Schuppen, Höfe etc. in Ihrer Umgebung haben, bitte schauen Sie sich um."
Die Aktion erfährt in Hamburg große Solidarität, beinahe in der gesamten Stadt hängen die Suchplakate. Rund 300.000 Flugblätter werden laut Angaben des "Hamburger Abendblatt" mit der Tagespost von Poppenbüttel bis Blankenese verteilt. Die Suchen kommen zu keinem Ergebnis, doch die Hoffnung bleibt.

Das letzte Update
Auch am 21. April wird in der "Help find Liam Colgan" ein Update veröffentlicht. "Wir bleiben optimistisch und haben weiterhin Hoffnung, dass wir ihn wieder sehen werden. Mit dieser Hoffnung ist die Familie in der vergangenen Woche wieder nach Hamburg zurückgekehrt, um zwei Sichtungen von Menschen, auf die Liam’s Beschreibung passt, nachzugehen", heißt es dort. Beide Sichtungen fallen negativ aus. "Die Reise nach Hamburg hat nicht den erhofften Erfolg gebracht, aber die Familie, Freunde und eine fantastische Gruppe von Freiwilligen nutzte die Gelegenheit alle Obdachlosenasyle und Drop-in Einrichtungen zu durchsuchen." Ebenfalls: ohne Erfolg. Daher liege die Vermutung nahe, dass Liam nicht mehr in Hamburg sei. "Mit diesem neuen Denkanstoß bezüglich seines möglichen Aufenthaltsortes, planen wir nun Suchtrupps in weiteren deutschen Großstädten, um Aufmerksamkeit zu schaffen und den Suchradius zu erweitern."
Zwei Tage später, rund zehn Wochen nach dem Verschwinden von Liam Colgan, wird das bisher letzte Update veröffentlicht. "Wir möchten uns sehr herzlich bei Ihnen für all Ihre Nachrichten bedanken. Wir möchten Sie höflich bitten keine weiteren Nachrichten, Videos und Bergungsbilder aus dem Fluss von Liam hier zu posten. Es ist für die Familie sehr schmerzvoll diese zu sehen - es ist für sie eh schon ein sehr schwerer Tag. Vielen Dank für Ihr Verständnis." Es ist das Ende einer hoffnungsvollen Suche.
Ein Puzzleteil fehlt noch
Auch, wenn die Hinweise erdrückend sind: Die Identität der Wasserleiche ist noch nicht abschließend geklärt, sagt eine Sprecherin der Polizei Hamburg dem stern. Für die Beamten ist Liam Colgan noch nicht tot, zumindest offiziell. Frühestens am heutigen Dienstag werde die Sektion der Wasserleiche beginnen, mit der auch ein DNA-Abgleich einhergehe. Ende der Woche werde ein Ergebnis erwartet. Dann soll auch geklärt werden, ob die Ermittlungen der Polizei im Fall Liam Colgan fortgeführt werden. Denn bisher sei ebenfalls unklar, ob es sich um ein Unfallgeschehen oder ein Gewaltverbrechen handelt.