Einen Tag nach dem schweren Zugunglück hat Nordkorea am Freitag offiziell um internationale Hilfe gebeten. "Eine formale Bitte um internationale Hilfe bei der Katastrophe wurde vom Humanitären Koordinator der Vereinten Nationen in Pjöngjang entgegen genommen", teilte das UN-Büro für die Koordination Humanitärer Angelegenheiten in Genf mit. Die Explosion eines mit Sprengstoff beladenen Zuges in einem Bahnhof in Nordkorea hat 800 Häuser dem Erdboden gleich gemacht und nach Angaben von Hilfsorganisationen mindestens 150 Menschen das Leben gekostet.
Nordkoreas kommunistische Regierung nannte am Freitag in einer ersten Äußerung rund 24 Stunden nach dem Unfall als Ursache einen Kurzschluss, der für Baumaßnahmen gedachtes Dynamit gezündet habe. Mehr als 1200 Menschen seien bei der Detonation in Ryongchon im Grenzgebiet zu China verletzt worden, sagte ein Rot-Kreuz-Sprecher unter Berufung auf nordkoreanische Angaben. Die Zahl der Todesopfer könne sich daher noch erhöhen. In ersten unbestätigten Berichten aus Südkorea war am Donnerstag noch von 3000 Toten und Verletzten die Rede gewesen. Südkorea rief die internationale Gemeinschaft zur Hilfe für sein Nachbarland auf. UNICEF-Vertreter wollten vor Ort prüfen, was am dringendsten benötigt werde.
Leichtsinn als Ursache
Das Unglück sei durch Leichtsinn hervorgerufen worden, meldete die japanische Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf nordkoreanische Regierungskreise. Der Sprengstoff sei für einen Bewässerungskanal gedacht gewesen, zitierte die russische Nachrichtenagentur Tass das nordkoreanische Außenministerium. Dies waren die ersten offiziellen Äußerungen Nordkoreas zu dem verheerenden Unfall vom Donnerstag.
"Sie haben uns gesagt, dass 150 Menschen getötet wurden, sagte Anne O'Mahony von der irischen Hilfsorganisation Concern mit Blick auf die nordkoreanischen Behörden. "Darunter sind einige Schulkinder, die Schulschluss hatten und sich in der Nähe des Zuges aufhielten, als sich die Explosion ereignete." Sie fügte hinzu: "Ein Mann hatte versucht, die Waggons an einen anderen Zug zu koppeln, und sie haben die elektrische Oberleitung erwischt. Das hat das Dynamit gezündet und die Explosion verursacht."
Rettungskräfte im Einsatz
Es seien hunderte Wohnungen zerstört worden, sagte John Sparrow von der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in der chinesischen Hauptstadt Peking. Rettungskräfte suchten in den Trümmern nach Opfern. Er stehe mit Rotkreuz-Helfern vor Ort in Kontakt.
Im Internet verbreitete Satellitenaufnahmen zeigten dichte Rauchwolken über der nordkoreanischen Stadt mit 130.000 Einwohnern. Nach südkoreanischen Angaben befinden sich in der Stadt und ihrer Nähe zahlreiche Treibstofflager. Die südkoreanische Nachrichtenagentur Yonhap meldete, der Bahnhof sehe aus wie nach einem Bombenangriff. Die staatlichen Medien Nordkoreas berichteten nicht über den Vorfall.
Einem Arzt der chinesischen Grenzstadt Dandong zufolge haben die Behörden die Krankenhäuser angewiesen, sich auf einen großen Notfall vorzubereiten. "Sie haben uns gesagt, dass wir uns vorbereiten sollen. Sie haben uns lediglich mitgeteilt, dass tausende tot oder verletzt sind", fügte er hinzu. Ein Sprecher der Stadt sagte, Nordkorea habe um Hilfe gebeten, "aber wir können keine näheren Angaben dazu machen".
UNICEF schickt Medikamente
Eine Sprecherin des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF) sagte in Genf, es würden Medikamente nach Nordkorea geschickt, mit denen rund 2500 Menschen versorgt werden könnten. UNICEF-Mitarbeiter und Vertreter anderer Hilfsorganisationen würden vor Ort die Lage prüfen. Bundeskanzler Gerhard Schröder drückte in einem Telegramm an den nordkoreanischen Ministerpräsidenten Pak Pong Ju sein Mitgefühl für das Unglück aus.
Der Bahnhof von Ryongchon ist keine Sehenswürdigkeit. Dennoch ist Bernd Seiler bereits drei Mal im Zug durch den nordkoreanischen Ort gefahren. Der Berliner organisiert mit seiner Firma FarRail Tours Reisen für Bahn-Begeisterte in exotische Winkel der Welt. Nach der Explosionskatastrophe ist Seiler ein gefragter Interviewpartner.
Die letzte FarRail-Reise im Januar 2004 hatte bereits Schlagzeilen gemacht, weil zwei mitgereiste TV-Journalisten damals heimlich Videoaufnahmen machten, die sie später im Fernsehen veröffentlichten. Die Berichte hatten allerdings auch Seiler überrascht - er fürchtet jetzt, von Pjöngjang keine Reisegenehmigung mehr zu bekommen.
Industriestadt Ryongchon wichtiger Knotenpunkt
Die an der chinesischen Grenze gelegene, 130.000 Einwohner zählende Industriestadt Ryongchon ist laut Seiler ein wichtiger Knotenpunkt, an dem die Eisenbahnstrecke vom Seehafen an der Mündung des Grenzflusses Yalu auf die Hauptstrecke von Pjöngjang nach China trifft. Weil praktisch der gesamte Import aus China hier durch müsse, stünden in dem kleinen Bahnhof stets viele Güterwaggons.
Sollte, wie zunächst vermutet, eine Kollision das Unglück vom Donnerstag ausgelöst haben, kann sich Seiler menschliches Versagen als Ursache vorstellen. Seine Erklärung: Neun Stunden zuvor hatte der nordkoreanische Präsident Kim Jong Il bei seiner Rückkehr von seinem Staatsbesuch in Peking die Unglücksstelle passiert. Für die Bahn-Bediensteten bedeute das Stress: "Wenn Kim in seinem Sonderzug durchfährt, darf nichts schief gehen", sagt Seiler.
Denn die Passage des "geliebten Führers, wie Nordkoreas kommunistischer Machthaber offiziell heißt, bedeutet natürlich höchste Sicherheitsstufe. Eisenbahn-Fan Seiler vergleicht das mit Transitzügen in der ehemaligen DDR. Auch da seien alle Bahnhöfe dringend angehalten worden, den Fahrplan einzuhalten.
"Zur Not stellt sich einer mit Flagge auf die Strecke"
Allerdings, berichtet Seiler unter Berufung auf nordkoreanische Diplomaten, befand sich der Explosionsort wohl in einem eigenen Bahnhofsbereich für Güterzüge. Seiler betont auch, dass das nordkoreanische Eisenbahnsystem trotz der katastrophalen Lage im Land "einigermaßen intakt" und sicher sei. Bei seinen Besuchen hätten sowohl Signal- als auch Kommunikationsanlagen funktioniert. Zwar müssten wegen des extremen Energiemangels elektrische Züge oft auf freier Strecke stoppen. Aber auch hier griffen Sicherheitsmaßnahmen - "zur Not stellt sich einer mit Flagge auf die Strecke", sagt er.
Die hohe Opferzahl erklärt sich der Bahn-Experte damit, dass in Ryongchon Wohnhäuser besonders nahe der Gleise gebaut wurden. Im ZDF gezeigte Aufnahmen belegen, dass vor allem zahlreiche Plattenbauten dicht an der Bahnanlage standen.