Es ist eine tödliche Route. Laut dem Missing Migrants Project gelten 2048 Menschen allein im Jahr 2021 im Mittelmeer als vermisst, seit dem Jahr 2014 insgesamt 23.000. Umso irritierender wirkt die ausgelassene Stimmung in dem Video. Die tunesische Influencerin Chaima Ben Mahmoude hat bei Instagram und Tiktok eine Szene ihrer Überfahrt von Tunesien nach Lampedusa geteilt. Junge Menschen sitzen in einem Boot. Sie klatschen und lachen in die Kamera. Als wäre das Ganze keine lebensgefährliche Überfahrt, sondern eine Art unbeschwerter Bootsausflug.
Ben Mahmoude hat das Video Mitte Dezember zusammen mit Selfies von sich und ihrem Verlobten bei Instagram und Tiktok geteilt. Inzwischen teilt sie Fotos aus Europa, die auf Hochglanz poliert sind und posiert beispielsweise vor dem Eiffelturm. Auf ihrem großen Tiktok-Account hat sie rund 140.000 Follower, auf dem privaten Instagram-Account rund 130.000.
Viele junge Menschen verlassen Tunesien
Im Gespräch mit Associated Press (AP) sagt die 21-Jährige, sie habe für sich keine Perspektive gesehen in Tunesien und habe das Land in Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen. Die Nachrichtenagentur hat über Zoom mit der 21-Jährigen gesprochen. Sie sei ausgebildete Friseurin und verdiene umgerechnet rund 110 Euro. "Damit kannst du nichts machen", sagt sie. Laut AP kommt Ben Mahmoude aus einer Mittelklasse-Familie aus der tunesischen Küstenstadt Sfax. Von hier bis zur italienischen Insel Lampedusa sind es 190 Kilometer Luftlinie.
Weil sie kein Visum erhalte, sei sie gezwungen gewesen, auf die Harka zu gehen. Das Wort Harka spielt auf das Verbrennen von Dokumenten und Grenzen an und steht für die Überfahrt übers Mittelmeer. Umgerechnet rund 1380 Euro habe Ben Mahmoude für einen Platz auf dem Boot mit 23 anderen Menschen gezahlt. Tunesien steckt in einer Wirtschaftskrise, insbesondere viele junge Menschen verlassen das Land. Der Direktor eines staatlichen Gymnasiums in der tunesischen Küstenstadt Zarzis sagte der "taz" bereits vor anderthalb Jahren, in einigen Klassen würden bis zu 30 Prozent der Jungs vor ihrem Schulabschluss verschwinden.
"Solche Videos sind extrem verbreitet in Tunesien"
Die junge Influencerin ist bei Weitem nicht die Einzige, die Szenen ihrer Harka in den sozialen Netzwerken geteilt hat. "Solche Videos sind extrem verbreitet in Tunesien", sagt Matt Herbert von der Nichtregierungsorganisation Global Initiative Against Transnational Organized Crime auf Anfrage des stern. Diesen Trend gebe es schon seit mehreren Jahren, die Videos würden vor allem unter tunesischen Jugendlichen zirkulieren. Von Jugendlichen aus Algerien und Marokko gebe es ähnliche Videos.
Ermutigen solche unbeschwerten Videos andere dazu, die lebensgefährliche und illegale Reise nach Europa per Boot auf sich zu nehmen? "Ich denke, auf diejenigen, die kein Interesse daran haben, zu gehen, haben diese Videos keinen großen Einfluss", sagt Herbert. Für diejenigen, die eine Reise erwägen, könnten die Videos die Entscheidung beeinflussen. Weil es den Prozess zum Teil entmystifiziere und die Angst auf das Unbekannte reduziere, das Menschen oft davon abhalte, aktiv zu werden.
Durch die Beiträge in den sozialen Medien gebe es jetzt viel mehr Informationen zu Routen, Schmugglern und Preisen. In den Videos unter den Kommentaren würden sich viele Fragen finden. Am Ende fügt Herbert noch an, dass die Videos auch Kommunikationsmöglichkeiten für die Migranten untereinander bieten würden, um einander vor Schmugglern oder bestimmten Routen zu warnen. Immerhin hätten sie damit aus Sicht des Migrantenschutzes auch einen nützlichen Aspekt.
"Ich habe den Tod direkt vor mir gesehen"
AP zitiert Wael Garnaoui, einen Psychologen, der die Harka untersucht. Er spricht von der "Migrationslüge", die durch die sozialen Medien verstärkt worden sei. Menschen würde andere in Europa sehen und ihren angeblichen Erfolg dort. Sie würden denken, dass sie einfach an Papiere, Arbeit und Geld kommen könnten. Doch die Realität sieht sehr oft sehr anders aus. Wie Chaima Ben Mahmoude ihren Lebensunterhalt in Europa aktuell bestreitet, bleibt offen. Sie habe in Tunesien Geld erhalten für gesponserte Inhalte ihrer Social Media Postings, heißt es in dem Artikel von AP. Ob sie für ihre Beiträge aus Frankreich nun ebenfalls Geld erhalte, sei unklar.
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Auch wenn die Stimmung auf in dem geteilten Video ausgelassen wirkte, sagte Ben Mahmoude im Gespräch mit der Agentur, dass die Reise entsetzlich gewesen sei. "Ich habe mich so gefürchtet. Ich habe den Tod direkt vor mir gesehen", wird sie zitiert.
Quellen: AP, Instagram, "taz", Missing Migrants Projects