"Terra Mediterranea" Was macht Mittelmeerküche aus? Autor Daniel Speck hat sich auf die Suche gemacht und einen Dialog der Kulturen gefunden

Bestsellerautor Daniel Speck ist gereist, um die "Terra Mediteranea" besser zu verstehen – und die Geschichten hinter den Gerichten 
Bestsellerautor Daniel Speck ist gereist, um die "Terra Mediteranea" besser zu verstehen.
© Giò Martorana
Jedes Gericht erzählt eine Geschichte. Welche, wollte Autor Daniel Speck wissen und ist ihnen hinterher gereist – von Sizilien über Tunis bis ins Heilige Land. Er erlebte großes Chaos. Welch Glück das war, erzählt er im stern-Interview.

Herr Speck, eigentlich sind Sie Schriftsteller und Drehbuchautor. Jetzt haben Sie mit Terra Mediterranea – ich sage mal – so etwas wie ein Kochbuch vorgelegt. Wieso?
Es ist vor allem ein Buch über die Menschen des Mittelmeers. Es erzählt die Geschichten hinter den Gerichten. Entstanden ist es, weil Lesern meiner Romane, die ja alle im Mittelmeerraum spielen, aufgefallen ist, dass darin dauernd gegessen wird. Bei Lesungen haben sie vorgeschlagen, dass ich doch mal etwas übers Essen schreiben sollte.

Sie schreiben ständig übers Essen und merken es nicht?
Mir war das so nicht bewusst. Aber klar, meine Romane sind Familiengeschichten. Die wichtigen Szenen finden statt, wenn alle zum Essen zusammensitzen. Und in meinem Roman Bella Germania habe ich beschrieben, wie die italienische Küche Deutschland verändert hat. Einer der Protagonisten, Giovanni Marconi, bringt die sizilianische Küche nach München und eröffnet den ersten italienischen Feinkostladen der Stadt. Schon in diesem Buch ging es also darum, wie Kochrezepte zwischen Kulturen wandern und Menschen verbinden. Und für Piccola Sicilia, dem nächsten Roman, habe ich dann in Tunis recherchiert.

Sie fahren also nach Tunesien, um etwas über Sizilien herauszufinden?
Piccola Sicilia war das italienische Hafenviertel von Tunis. Dort habe ich Jacob Lellouche kennengelernt. Er ist in dem Viertel aufgewachsen, dort hatte er auch sein Restaurant – das einzige jüdische Restaurant von Tunis. Er erzählte mir, wie im Viertel die verschiedenen religiösen Communities übers Essen zusammenkamen. Und dass sie die anderen, also die Christen und Muslime, über die Festessen kennengelernt hätten, zu denen man sich gegenseitig einlud. Er sagte den schönen Satz: Wir waren Festgeschwister. Da wurde mir bewusst, dass das Essen die Kraft hat, Menschen trotz aller Unterschiede zusammenzubringen. Und so entstand die Idee, die Ufer des Mittelmeers in einem Buch über die mediterrane Küche zu verbinden. Jacob ist darin einer von drei Köchen, die ihre persönlichen Rezepte vorstellen.

Sie schreiben in der Einleitung, dass das Buch eine Einladung sein soll, sich mit "uns" an den Tisch zu setzen. Wer ist uns?
Damit sind die drei Köche und Köchinnen, also Martina Caruso aus Sizilien, Jacob Lellouche aus Tunis und Fadi Kattan aus Bethlehem, und deren Familien gemeint. Mein Fotograf und ich haben die Drei zu Hause besucht. Diese Erfahrung wollen wir mit den Lesern teilen: Sie sollen das Gefühl haben, dass sie mit uns am Tisch sitzen, die Gerichte genießen und die Familiengeschichten dazu hören. Die Rezepte laden zum Nachkochen ein.

Sie stellen die mediterrane Küche anhand von drei Kulturkreisen vor: Südeuropa, Nordafrika und der Nahe Osten. Dafür haben Sie sich auf die Reise gemacht. Warum diese Route?
Das Mittelmeer ist das einzige Meer auf der Erde, das drei Kontinente in so naher Nachbarschaft verbindet. Für jeden dieser Kontinente habe ich mir einen Ort ausgesucht, der sein kulinarisches Erbe repräsentiert. Das sind alles Locations, welche die Leser:innen meiner Romane schon kennen. In Bella Germania gibt es eine sizilianische Familie. In Piccola Sicilia gibt es eine tunesisch-jüdische Familie. In Jaffa Road gibt es eine israelische und eine palästinensische Familie. So war die Route vorgegeben.

Sie kannten die Rezeptgeber also bereits?
Ich kannte ihre Heimatorte. Mit Martina Caruso bin ich seit Bella Germania befreundet, und mit Jacob Lellouche seit Piccola Sicilia. Fadi Kattan habe ich letztes Jahr durch Zeitungsberichte entdeckt. Er wird als neuer Star der Levante-Küche gefeiert. Aber wie die anderen Zwei war er mit seinen Rezepten noch nie in einem deutschen Kochbuch vertreten. Das passte gut. Als ich ihn ansprach, sagte er sofort: Willkommen, komm vorbei!

Jedes Rezept im Buch erzähle von einer Reise, einer Begegnung, einer Verwandlung, schreiben Sie. Wie meinen Sie das?
Das Mittelmeer war immer ein lebendiger Begegnungsraum. Die Menschen, die von dem einen Ufer zum anderen reisten, nahmen die Rezepte ihrer Großeltern mit. Diese Traditionen haben sich dann wiederum mit den dortigen lokalen Rezepten verbunden. In solchen Familiengeschichten spiegelt sich Kulturgeschichte. 

Geschichten wie …?
In den 40er-Jahren hätte sich in Deutschland niemand vorstellen können, dass wir alle mal Pizza essen. Später war’s der Döner. Derzeit erleben wir einen Hummus-Boom. Eine typisch nahöstliche Vorspeise. Auf arabisch bedeutet "Hummus": Kichererbse. Menschen, die vom östlichen Mittelmeerraum nach Deutschland kamen, brachten es mit. Jetzt findet man in Berlin, München und Hamburg Hummus in allen Variationen – von der Falafelbude bis zum Spitzenrestaurant. Wieder ein Beispiel dafür, wie Küche mit den Menschen wandert und sich dadurch lokale Essgewohnheiten verändern.

Im Buch finden sich traditionelle Gerichte, aber auch moderne Interpretationen.
Richtig. Die drei Köche stellen traditionelle Rezepte vor, wie zum Beispiel die sizilianischen Cannoli al pistaccio, aber auch Gerichte, die sie selbst kreiert haben. Martina Caruso hat Rezepte entwickelt, sie nennt sie "Terra e Mare", in denen sie Meeresfrüchte und Fleisch kombiniert. Als Inspiration dafür diente eine Paella, die sie auf einer Spanienreise gegessen hat. Sie hat die Idee nach Hause mitgebracht und mit lokalen Zutaten in die sizilianische Küche übertragen: Muscheln mit Lardo und Linsen. Dazu kommen noch die Geschichten, die wir auf der Reise erlebt haben – wie die von dem Fisch, der die Mauer überwindet.

Wie bitte?
Fadi Kattan bat uns, frischen Fisch nach Bethlehem mitzubringen und zwar aus dem Geschäft in Jaffa, in dem seine Großmutter Stammkundin war. Damals, vor 1948, kaufte sie als christliche Palästinenserin bei einem jüdischen Fischhändler ein. Das war gelebter Alltag. Fadis Großmutter Julia Kattan war mit dem Fischhändler Paul Sarfati, der als sephardischer Jude aus Thessaloniki eingewandert war, befreundet. Sein Fischgeschäft haben wir tatsächlich gefunden, heute gehört es seinem Enkel Arik. Als wir ihm die Geschichte erzählten, telefonierte Arik zum ersten Mal mit Fadi. Zwischen ihnen liegt zwar nur eine Stunde Fahrt, aber eben auch eine acht Meter hohe Mauer. Mit diesem Telefonat wurde die gerissene Verbindung der Familien wieder aufgenommen; beide waren unfassbar berührt. Mit dem schönsten Barsch, den Arik finden konnte, sind wir dann nach Bethlehem gefahren, also über die Mauer, wo Fadi den Fisch nach dem Rezept seiner Großmutter zubereitet hat.

Es ist gar nicht so einfach, zu definieren, was mediterrane Küche überhaupt ist. Was macht sie für Sie aus?
Ich würde es von hinten aufzäumen und sagen, ein mediterranes Menü wird immer in Gemeinschaft genossen. Am Mittelmeer siehst du keinen, der allein isst. Dieser enge Familienbezug, die Gemeinschaft und die Gastfreundschaft verbindet die Länder. An jedem Tisch ist immer noch Platz für einen Gast. Egal ob in armen oder wohlhabenden Familien, gutes Essen wird zelebriert und geteilt. Und auf den Tafeln steht nie nur ein Gericht, sondern immer mehrere – die Interpretationen unterscheiden sich aber von Land zu Land.

Worin?
In der nahöstlichen Kultur gibt es zum Beispiel die Tradition der Mezze. Verschiedene Schüsseln kommen auf dem Tisch, und man beginnt zu dippen, dazu gibt’s einen Arak. Der dient dazu, die Geschmacksnerven immer wieder zu reinigen, damit man die verschiedenen Geschmacksnoten unverfälscht genießen kann. In der tunesischen Küche heißt diese Variation kleiner Vorspeisen "Kemia". Diese werden aber nicht abgeräumt, wenn der Hauptgang kommt, sondern wandeln sich zur Beilage, wie zum Beispiel die Harissa-Kartoffeln. Übrigens stehen dort auch mehrere Hauptgerichte zugleich auf dem Tisch. Ein sizilianisches Menu besteht ebenfalls aus einer Variation verschiedener Gerichte, aber sie kommen nicht zeitgleich, sondern nacheinander. Auch wenn es zehn Gänge werden. Die Zutaten, die überall dazugehören: Olivenöl, frisches Obst und Gemüse wie Tomaten, Zucchini und Orangen, und viel Fisch. Wie die Zutaten zubereitet werden, ist von Ort zu Ort verschieden. Das finde ich an der Mittelmeerküche gerade schön – sie ist sehr vielfältig.

Weil die verschiedenen Küchen sich mischen, meinen Sie?
Die Gerichte von Terra Mediterranea erzählen vom Dialog der Kulturen. Sie feiern ihr Terroir, aber auch die Begegnung mit anderen Identitäten. Das Konzept einer geschlossenen Identität ist dem Mittelmeer fremd. Ein Beispiel sind die Involtini Josephine von Fadi Kattan. Das sind italienische Rouladen, die in Fadis palästinensischer Familie Kultstatus haben. Eine Großtante von Fadi aus Bethlehem, Josephine, verliebte sich im kosmopolitischen Alexandria in einen Italiener, Nicola Barbagallo. Von ihrer italienischen Schwiegermutter lernte sie die Zubereitung der Rindsrouladen mit Petersilie und Pinienkernen, dem Lieblingsgericht ihres Liebsten, das später auch zum Lieblingsgericht der gemeinsamen Kinder werden sollte. Heute, Generationen später, sind die Rouladen das Lieblingsgericht einer ganzen Familie.

Cover von "Terra Mediterranea"
"Terra Mediterranea" von Daniel Speck ist im Fischer Verlag erschienen, 272 Seiten, 29,90 Euro.

Auf Ihrer Mittelmeerreise haben Sie viel erlebt. Haben Sie etwas fürs Leben gelernt?
Mehr Flexibilität und einen entspannteren Umgang mit Krisensituationen. Am Mittelmeer leben die Menschen mit dem Chaos. Dass etwas klappt, ist die Ausnahme; dass etwas nicht klappt, die Regel. Die mediterranen Menschen sind spontaner, flexibler und laufen zur Höchstform auf, wenn Improvisationstalent gefragt ist. Und sie sind resilient. Das habe ich vor allem bei Fadi Kattan erlebt. Betlehem ist wohl einer der kompliziertesten Orte, um ein Restaurant zu führen. Aber Fadi begegnet allen Widrigkeiten mit Gefasstheit, hat immer einen Plan B, kümmert sich um die Schwächeren. Die Gemeinschaft ist in den Mittelmeerländern zentral, sie schützt vor den Unwägbarkeiten, der politischen Krise, dem wirtschaftlichen Chaos. Deswegen kommt dieses Buch auch genau zur richtigen Zeit.

Wie meinen Sie das?
Das Buch erscheint ausgerechnet jetzt, wenn die Wolken grau sind und Krisenstimmung herrscht. Aber es handelt eben von Menschen, die damit umzugehen wissen und ein Gegengift haben: Lebensfreude. Wir wissen nicht was morgen ist, aber heute genießen wir das Leben – und wir genießen es gemeinsam!

Das Buch wird als Coffee-Table-Book beschrieben. Aber ist es wirklich eins?
Ich sehe es als hybrides Buch. Im Wohnzimmer kann es liegen wegen der Fotos von Giò Martorana, die eine große künstlerische Qualität haben, in der Küche wegen den Rezepten und im Schlafzimmer wegen den Geschichten. Das Buch vereint verschiedene Elemente; das macht es so besonders – es bewegt sich zwischen den Grenzen und zwischen den Schubladen. So wie eben auch die Rezepte und die porträtierten Menschen, die außerhalb der Klischees stehen und einen sehr weiten Horizont haben.

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