Während Manfred W. in einer Gletscherspalte um sein Leben kämpft, denkt er vor allem an seine Familie daheim in der Oberpfalz, an seine zwei erwachsenen Söhne, die er wiedersehen will. Und der 70-Jährige wünscht sich in seinem eisigen Gefängnis in rund 3000 Meter Höhe einen heißen Tee, etwas Saft und - ganz der Bayer - eine Halbe Radler. All das hat er den Ärzten im Innsbrucker Klinikum nach seiner Rettung erzählt. Es ist ein Wunder, dass Manfred W. irgendjemandem über seine Gedanken während der letzten Tage berichten kann. Er sprang dem Tod - wie es im Volksmund heißt - in letzter Minute von der Schippe.
Der Mann aus einem kleinen Dorf bei Regensburg war während einer Solo-Bergtour am Tiroler Längentaljoch im Schnee eingebrochen. Er musste sechs Tage lang in einer nur wenige Quadratmeter großen Eisritze ausharren, bevor ihn seine Retter fanden. Es war reiner Zufall. Allein dem Glück und seiner guten körperlichen Verfassung hat Manfred W. sein Leben zu verdanken.
Am Montag, dem 6. August, erreicht der passionierte Bergsteiger das Westfalenhaus. Die Hütte auf 2273 Höhenmetern dient vielen Wanderern als Etappenziel auf dem Weg tiefer in die Stubaier Alpen. Ob es noch ein Quartier für einen älteren Herrn gebe, fragt Manfred W. den Hüttenwart. Rinaldo De Biasio bejaht und gibt ihm Zimmer 2, ein Einzelzimmer. Manfred W. unternimmt zwei Bergtouren von der Hütte aus, lässt sich das Essen bei De Biasio schmecken und gönnt sich am Abend ein Glas Rotwein. "Er war wirklich gut drauf, wirkte durchtrainiert und sagte, er sei ein erfahrener Bergsteiger", erinnert sich De Biasio. Um 7.30 Uhr am Mittwoch, 8. August, trägt sich der Bayer im Hüttenbuch aus und sagt De Biasio noch, er wolle zur Amberger Hütte, die eine knappe Tagestour entfernt ist.
"Lange hätter er es nicht mehr ausgehalten"
Was nun geschieht, lässt sich durch die Berichte der Bergretter und durch das, was Manfred W. ihnen und seinen Ärzten erzählt hat, rekonstruieren: Rund zwei Stunden nach seinem Aufbruch läuft er über einen Gletscher. Manfred W. ist alleine unterwegs, ist nicht angeseilt und hat keine Steigeisen. Sulziger Schnee überdeckt die gefährlichen Spalten. In eine von ihnen fällt der Deutsche 20 Meter tief. Er hat mehrfaches Glück im Unglück: Zum einen verletzt er sich nur leicht an der Hüfte bei dem Sturz. Zudem bleibt er halbwegs trocken, entscheidend für das Überleben bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Auch hat Manfred W. Schokolade und ein bisschen Brot dabei.
Dem Verunglückten, das erzählt er später seinem Arzt, wird schnell klar, dass er sich ohne Steigeisen nicht selber aus der misslichen Lage befreien kann. Hilfe rufen mit seinem Handy scheidet auch aus, kein Empfang. Also rationiert Manfred W. sofort seinen Proviant. "Das war wirklich enorm clever", sagt der Anästhesist Volker Wendel, der mit Manfred W. nach der Rettung im Innsbrucker Klinikum sprach. Der Mann habe ihm erzählt, er habe sich in der Spalte auf ein kleines Podest gesetzt. Viel herumlaufen konnte Manfred W. wohl auch nicht, schließlich bestand die erneute Gefahr eines Einbruchs.
Tagelang verharrt der 70-Jährige in der rund 1,5 Meter breiten Spalte. Er döst nur. Im tiefen Schlaf, so erzählt er später, wäre er sicher erfroren. Anästhesist Wendel: "Er sagte mir, er habe schlichtweg gewartet und gehofft, dass ihn jemand findet." Ob er denn an den Tod gedacht hätte, fragt ihn der Arzt. "Ja. Aber diesmal sei er noch nicht dran", habe der Patient geantwortet. Doch trotzt Wechselkleidung, rationiertem Essen und Gletscherwasser wird die Lage für Manfred W. immer bedrohlicher. Seine Körpertemperatur sinkt. "Lange hätte er es sicher nicht mehr ausgehalten", sagt der Mediziner.
Sein Glück: Er war körperlich durchtrainiert
Manfred W. hat wieder Glück. Drei Bergsteiger brechen am 14.August vom Westfalenhaus auf und nehmen dieselbe Route wie der Eingeschlossene. Sie hören seine Rufe. Um 12.17 Uhr geht bei der Polizei der Notruf ein. Zwei Hubschrauber steigen kurz nacheinander auf und bringen Bergretter, Notarzt und den Alpenpolizisten Hansjörg Knoflach an die Unglücksstelle. Ein Retter seilt sich ab, mit einem Seilzug ziehen sie den Mann nach oben. "Er war zwar erschöpft und nass. Aber er wirkte klar und orientiert", sagt Knoflach. "Er hat uns erzählt, dass er seit rund einer Woche dort unten gewesen sei. Wir haben das erst nicht geglaubt." Doch klar ist, dass Manfred W. sehr schnelle Hilfe braucht. Sofort wird er ins Innsbrucker Klinikum geflogen.
Dort hat Volker Wenzel Dienst und ist einer der ersten, die Manfred W. medizinisch betreuen. "Es ist wirklich erstaunlich, wie gut er das überstanden hat. So etwas habe ich in meinen 15 Dienstjahren hier noch nicht erlebt. Ihm kam zugute, dass er körperlich durchtrainiert ist. Und er ist ein mental starker Mann." Ein paar Tage muss der Gerettete noch in der Klinik bleiben, die Ärzte sorgen sich etwas um seine Erfrierungen an den Beinen, vielleicht muss er noch an der Hüfte operiert werden.
Aber Manfred W. hat bewiesen, dass er kämpfen kann. Und seinen Humor hat er sich auch bewahrt. Volker Wenzel: "Er hat mir erzählt, was er sich in der Spalte gewünscht hat. Und dann habe ich ihn gefragt, was er jetzt gerne hätte. 'Eine halbe Radler' hat er gesagt. 'Warum denn nicht gleich eine Maß?' habe ich ihn gefragt. Er meinte, das wäre zu viel. Die Schwestern haben richtig gelacht."