In diesen Tagen, wenn die warmen Winde von Süden her über den Golf wehen, wird die Halbinsel Grand Isle wieder zum Paradies für Vogelforscher. Das Gebiet am südlichen Zipfel von Louisiana liegt auf der Route der Zugvögel, die aus Mittel- und Südamerika kommen. 176 Arten wurden hier im vergangenen Jahr beim jährlichen Zugvogelfestival gesichtet. Vier Tage später explodierte draußen im Meer die Bohrplattform "Deepwater Horizon", Ursache für die größte Naturkatastrophe in der Geschichte Amerikas. Grand Isle wurde voll erwischt.
Das Paradies wurde von schwarzem Gift überzogen. 3000 Katastrophenhelfer waren rund um die Uhr im Einsatz, um Strände und Nistgebiete zu reinigen. Sie konnten viele Tausend Tiere nur tot bergen. Das Ökosystem im Marschland war zerstört.
Am vergangenen Wochenende, genau ein Jahr später, waren die Vogelfans wieder da, im Morgengrauen trafen sie sich vor der örtlichen Schule, um rauszufahren zu Pelikanen, Fischadlern und anderen seltenen Arten. Die Strände sind wieder weiß, das Heer der Arbeiter ist abgezogen. Einige Helfer in Gummistiefeln und bunten Overalls kontrollieren zwar noch täglich Sand, Wasser und Feuchtgebiete rund um die Insel. Aber die Patrouillen kommen meist mit leeren Säcken zurück, tote Vögel finden sie nur noch selten.
"Alle Strände sind wieder offen, der Fisch ist großartig, wir sind zurück in der Normalität", schwärmt Josie Cheramie vom Tourismusbüro. "Das mag unglaublich klingen, aber die Behörden haben das festgestellt. Und wir glauben ihnen."
Wo ist das Öl hin?
Kann das sein? Das ganze Öl, das über 15 Wochen aus dem Bohrloch im Golf sprudelte - einfach weg? 800 Millionen Liter Rohöl verschwunden? Bis heute weiß keiner genau, wie viel Öl wirklich in 1500 Metern Tiefe ins Meer entwich. Weiß keiner, wo die Millionen Liter aus der Tiefsee geblieben sind, die nie die Wasseroberfläche erreichten. Weiß keiner, welche Folgen das alles für die Tiere hat, für das Meer, die Menschen. Nicht einmal der Ölkonzern BP, der auf der Unglücksplattform bohren ließ, kann abschätzen, welche Risiken die Katastrophe noch birgt. Woher also diese Zuversicht?
Auf den Karten der Küstenwache, mit denen die Behörden regelmäßig über den Stand ihrer Arbeiten berichten, werden die Küstenstreifen in drei Farben dargestellt: Rot steht für Verschmutzung, Gelb für anhaltende Kontrollen und Blau für erledigt. Die gesamte Küste Louisianas ist inzwischen gelb und blau. "Die Strände und das Marschland wurden gereinigt und ihr ursprünglicher Zustand wiederhergestellt", meldete die US-Küstenwache am vergangenen Freitag. Die Arbeit ist erledigt, die Welt am Golf scheint wieder in Ordnung.
Schon im vergangenen August veröffentlichte die US-Meeresbehörde Noaa einen Bericht, in dem die Arbeit verschiedener Forscherteams zusammengefasst wurde. Die beruhigende Botschaft: Die große Masse des Öls sei verschwunden - abgebaut, verdunstet, verbrannt, abgesaugt. Maßgeblich sei das dem entschlossenen Katastropheneinsatz zu verdanken, feierte sich die Bundesbehörde. Die Zehntausende Helfer, die mit Tausenden Schiffen, mit Helikoptern und Flugzeugen über Monate versuchten, die schleimig-braune Masse an der Wasseroberfläche und den Küsten zu beseitigen, hatten scheinbar das Schlimmste verhindert. Lediglich 26 Prozent des ausgetretenen Öls seien noch im Meer verblieben.
BP: "Es gibt keine Ölfahnen"
"Bemerkenswert ist, wie viel Öl inzwischen von Bakterien zersetzt wurde", sagt Ronald Boesch. "Die Selbstheilungskräfte der Natur sind wesentlich stärker, als viele glauben." Der Meeresbiologe leitet das Zentrum für Umweltforschung an der Universität Maryland. Präsident Barack Obama hat ihn in den Expertenrat berufen, der die Folgen der Ölpest dokumentieren soll. Boeschs Meinung ist wichtig, vor allem in Washington. "Die Aussage ,das Öl ist weg‘ ist grundsätzlich schon richtig", sagt er. "Es gibt keine Beweise dafür, dass noch größere Mengen im Meer schwimmen. Doch die Aussage ist natürlich unzulässig vereinfacht."
Andere dagegen schlagen Alarm. Samantha Joye von der University of Georgia etwa. Schon im Mai war sie mit einem Team auf dem Forschungsschiff "Pelican" in Wassertiefen zwischen 700 und 1300 Metern auf riesige Ölfahnen gestoßen, bis zu 16 Kilometer lang und fast fünf Kilometer breit. Nie zuvor war so viel unter der Wasseroberfläche geblieben. "Es sind schockierende Mengen Öl in der Tiefsee", sagt Joye. Die Behörde maß den Erkenntnissen zunächst keine Bedeutung bei. Vielleicht auch, um die Erfolgsmeldungen über die Aufräumarbeiten an der Küste nicht zu gefährden. Die Behörde habe sogar versucht, die Forscher zu diskreditieren, berichtet einer der Wissenschaftler, der mit auf der "Pelican" war. "Die haben uns wie unfähige Idioten behandelt."
Auch BP wollte von den Ölfahnen in der Tiefsee zunächst nichts wissen. Für den Konzern ist der Verbleib des Öls eine Milliarden-Dollar-Frage. Ein US-Gesetz, der Clean Water Act, sieht für Verursacher einer Ölpest saftige Strafen vor. Mindestens 1100 Dollar pro Barrel (je 159 Liter) werden fällig, bei grober Fahrlässigkeit sogar bis zu 4300 Dollar. Um die Strafe möglichst gering zu halten, veranschlagte BP die ausgetretene Ölmenge und deren Folgen möglichst niedrig. Erste Berichte über die Ausbreitung des Öls unter Wasser wischten die BP-Manager zur Seite. "Das Öl ist an der Oberfläche", erklärte der damalige Konzernchef Tony Hayward Ende Mai bei einem Besuch in Louisiana. "Es gibt keine Ölfahnen."
Öl-Chemikalien-Gemisch bedeckt Meeresboden
Die US-Regierung schätzt inzwischen offiziell, dass 87 Tage lang erst 62.000, dann rund 53.000 Barrel pro Tag aus dem Bohrloch strömten, bis es mit Schlamm und Zement gestopft werden konnte. Unter Wissenschaftlern gibt es keine ernsten Zweifel mehr, dass der Großteil des Öls noch unter Wasser ist. Ein Team um Forscherin Joye hat überschlagen, dass etwa 58 Prozent des Öls im Meer geblieben sind. Und bei einer weiteren Forschungsfahrt stieß sie auf etwas, "das wir so noch nie gesehen haben": eine mehrere Zentimeter dicke Schicht von Ölflocken am Meeresboden.
"Zu glauben, dass das Öl in jedem Fall an die Oberfläche steigen würde, war ein grober Denkfehler", sagt Antje Boetius, Meeresbiologin vom Bremer Alfred-Wegener-Institut, die seit Jahren im Golf von Mexiko forscht. Unter hohem Druck sei das Öl in winzig kleinen Tröpfchen aus dem Bohrloch geschossen. "Und die hatten nicht mehr genug Auftrieb, um aus der Tiefsee aufzusteigen." Sobald sich die leichteren Stoffe aus dem Öl herausgelöst hätten, seien die schwer abbaubaren Inhaltsstoffe auf den Meeresgrund gesunken. Da liegen sie nun - vermischt mit Chemikalien.
Direkt am Bohrloch hatte BP nämlich große Mengen Dispersionsmittel versprüht, um die dickflüssige Masse schnell aufzulösen und den Abbau durch Mikroben zu beschleunigen. Der Konzern hatte für den umstrittenen Einsatz weltweit die Bestände der Chemikalie Corexit aufgekauft, die zuvor vor allem an der Oberfläche eingesetzt wurde. Umweltschützer fürchten nach dem Einsatz von insgesamt 8,3 Millionen Litern erhebliche Spätfolgen.
Mysteriöses Delfinsterben
Was genau im Meer passiert, ist unklar. Im Hafen von Grand Isle warten die Besitzer der Charterboote vergebens auf die Sportfischer, von denen die Insel bis vor einem Jahr lebte. Es sind wohl Meldungen wie die von den toten Delfinen, die die Hochseeangler abschrecken, die viele zweifeln lassen an den offiziellen Erklärungen der Behörden und der von der Regierung eingesetzten Kommissionen. Dutzende der Meeressäuger sind in den vergangenen Wochen an die Küsten von Louisiana, Mississippi, Alabama und Florida geschwemmt worden, 153 tote Delfine seit Jahresbeginn. Eine ungewöhnlich hohe Zahl, stellte die Meeresbehörde nüchtern fest. Nur auf wenigen Kadavern seien aber Spuren von Öl gefunden worden. Irgendetwas ist da draußen nicht in Ordnung. Aber ist das eine Folge der Katastrophe?
"Dass die Schäden nicht von Anfang an systematisch erfasst wurden, ist ein großes Dilemma", sagt Boetius. Dafür hätten nie ausreichend Mittel zur Verfügung gestanden, und das lasse sich "nur mit wirtschaftlichen Interessen erklären". Mit anderen Worten: Die mächtige Allianz aus Regierung und Industrie verhindert eine unabhängige Aufklärung.
"Es gibt viele, teils verborgene Interessen", sagt Chris d'Elia, Dekan der Fakultät für Küstenschutz der Louisiana State University. Keiner der Beteiligten interessiere sich ernsthaft dafür, die Forschung zu organisieren. Und sein Kollege, der renommierte Ozeanologe Gene Turner, sagt: "Die Aussage der Regierung, das Öl wäre weg, ist Unfug." Viele Berichte, die von Wissenschaftlern veröffentlicht würden, seien mit Vorsicht zu genießen. "Direkt nach der Katastrophe hat BP sehr viele Experten unter Vertrag genommen. Die können jetzt forschen und werden gut bezahlt. Aber wirklich unabhängig sind sie natürlich nicht mehr."
BP plant neue Tiefseeprojekte
BP steht unter Druck. Der Börsenwert hat sich nach der Katastrophe fast halbiert, der Konzern musste sich auf eine neue, riskante Strategie verlegen. 20 Milliarden Dollar hat das Unternehmen in einen Fonds für schnelle Entschädigungen gezahlt. Knapp elf Milliarden Dollar kostete es, das Bohrloch zu stopfen und die sichtbaren Schäden zu beseitigen. Neun Milliarden Dollar hat BP für weitere Ansprüche zurückgestellt. Wie hoch die Strafen wirklich ausfallen, entscheiden die Gerichte, der Prozess wird frühestens 2012 beginnen. Es drohen Strafen von mehr als 20 Milliarden Dollar. Nachrichten über massive Spätfolgen wären da ärgerlich.
Ohnehin plant der Konzern längst die nächsten Tiefseeprojekte - auch im Golf von Mexiko, wo die Regierung nach dem Moratorium wieder erste Lizenzen ausgeschrieben hat. "Der Branche bleibt keine Wahl: Wir müssen neue Grenzen überschreiten", hat der neue Konzernchef Bob Dudley kürzlich erklärt. "So etwas ist immer mit Risiken verbunden."