Der klapprige weiße VW-Bus tuckert durch den Tiergarten, umrundet die Siegessäule, weiter auf der Straße des 17. Juni, verlässt Berlin in Richtung Potsdam. Auf der zweiten Rückbank sitzt im dunklen Dreiteiler, Manschettenknöpfe am gestreiften Hemd, der oberste Klimaberater der deutschen Bundeskanzlerin. Es ist der Physikprofessor Hans Joachim Schellnhuber, ein schlaksiger Endfünfziger, grauer Haarkranz, der aus tief liegenden Augen in die Welt blickt. Er kommt von einem Treffen mit Angela Merkel. Im Foyer des Paul-Löbe-Hauses hat Schellnhuber der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag Angst machende Dias gezeigt und Grundlagen der deutschen Klimapolitik erläutert.
Der Diener dreier Bundeskanzler
Angela Merkel hat es leicht, Schellnhuber zu verstehen: Beide sind Physiker. Schellnhuber kritzelt im Kanzleramt schon mal chemische Formeln auf einen Zettel. Die Formeln beschreiben eine Katastrophe, die in den Ozeanen droht: Kohlendioxid-Abgase aus Autos, Fabriken und Kraftwerken wandeln sich im Meer zu Kohlensäure. Die Säure verätzt Kalkschalen von Muscheln und Korallen. Als die Kanzlerin die chemische Gleichung las, habe sie das Problem sofort erkannt, berichtet Schellnhuber: "Sie fragt so lange, bis sie ein Thema verstanden hat."
Schellnhuber hat drei Bundeskanzler in Sachen Umweltpolitik beraten, er sitzt seit 1992 im wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung, dessen Vorsitzender er mittlerweile ist. Bei Kohl ist er kaum zu Wort gekommen, der Altkanzler redete ohne Unterlass. Während eines Gesprächs mit Umweltexperten, erinnert sich Schellnhuber, sei Kohl erst nach anderthalbstündigem Monolog auf das Umwelt-Thema zurückgekommen, als er knapp verkündete: "Bäume sind mir wichtig!" Über die Schröder-Zeit erzählt Schellnhuber nicht viel, dafür schwärmt er geradezu für Merkel; zeitweise trafen sie sich alle paar Wochen.
Politiker greifen Schellnhubers Vorschläge dankbar auf. Der 59-jährige Physiker schafft es, komplizierte Wissenschaft in handfeste Slogans zu übersetzen. Schon in den 1990er Jahren entdeckte Schellnhuber das einprägsame "Zwei-Grad-Ziel": Die globale Erwärmung muss demnach auf zwei Grad begrenzt werden, um katastrophale Folgen zu verhindern. Nach der Bundesregierung hatte 2006 auch die Europäische Union und schließlich die Weltgemeinschaft das Zwei-Grad-Ziel als Richtlinie übernommen.
Seine Thesen dringen durch
Schellnhubers Sprache findet direkt den Weg ins Unterbewusstsein der Zuhörer. Bei einer Diskussion vor UN-Delegierten stehen die Zuschauer bis auf die Flure. Schellnhuber blickt durch schmale Augenlieder mit zurückgelegtem Kopf vom Podium hinab aufs Publikum. Ohne eine "geschlossene Reaktion der Weltgemeinschaft" gegen den Klimawandel, sagt der Klimaforscher in gewohnt ruhigem Ton wie im Selbstgespräch, werde die Welt künftig eine "ganz andere" sein. Der Meeresspiegel drohe um "sieben Meter" anzusteigen. "Sieben Meter", notieren die anwesenden Journalisten. Zeitungen drucken zur UN-Klimakonferenz unzählige wohlmeinende Portraits über den Wissenschafts-Star.
Schellnhubers Sieben-Meter-Szenario wird auch auf der Konferenz in Kopenhagen nicht in Frage gestellt. Darauf angesprochen, gibt er sofort zu: Die Aussage sei aus wissenschaftlicher Sicht natürlich spekulativ. Tatsächlich sei unklar, wie viel Eis schmelzen und die Ozeane anschwellen lassen werde. "Aber würden Sie in ein Flugzeug steigen, das mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent abstürzt?"
Eine "Ideen-Gebärmaschine" im Dienste des Klimas
Schellnhuber lässt seine Thesen am Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung (PIK) prüfen, dessen Gründer und Direktor er ist. Zum Institut geht es vom Potsdamer Hauptbahnhof eine hässliche Straße den Telegrafenberg hinauf. Oben präsentiert sich die Welt der Wissenschaft wie für einen Kinofilm gebaut. In einer Parkanlage liegt das herrschaftliche Institut, im renovierten Altbau mit stolz thronenden Observatorien. Hier oben arbeitete bereits Einstein, was man bei einem Besuch in jedem Fall erfährt.
Von seinen Mitarbeitern fordert Schellnhuber ständig neue Einfälle. "Er ist der intellektuelle Übervater unseres Instituts", schwärmt ein leitender Forscher. Viele Vorschläge stammen von Schellnhuber selbst. "Der Mann ist eine Ideen-Gebärmaschine", sagt Hartmut Graßl, ehemaliger Chef der Meteorologischen Weltorganisation WMO. "Sein scharfer Verstand bringt jeden in Bedrängnis."
Bereits als 17-Jähriger hat sich Hans Joachim Schellnhuber bewiesen, dass er viel erreichen kann. Er stammt aus dem niederbayerischen Dorf Ortenburg. Für die Universität war kein Geld da, aber es gab ein Stipendium für Hochbegabte. "Dann habe ich mich eben ein Jahr etwas mehr angestrengt in der Schule und habe das Abitur mit 1,0 abgelegt. Obwohl ich sonst kein fleißiger Schüler war", erzählt er.
Physik und Mathematik hat er studiert, in Regensburg promoviert, und wurde an das kalifornische Institute of Theoretical Physics empfohlen, in dem er mehrere Jahre gearbeitet hat. Tür an Tür mit drei Nobelpreisträgern, die er heute alle zu seinen Freunden zählt. Er wurde Direktor am Institut für Chemie und Biologie des Meeres in Oldenburg und 1991 gründete er das PIK in Potsdam. Anfang des Jahrtausends baute Schellnhuber in Großbritannien auch noch das Tyndall-Klimaforschungsinstitut auf.
Paradiesvogel im Politikberater-Dilemma
"Jetzt ist er noch arroganter geworden", entfuhr es einer guten Bekannten Schellnhubers, als sie ihn nach seiner Rückkehr aus Großbritannien im Fernsehen sah. "Er hat gelernt, genauso arrogant zu sein, wie wir es sind", witzelte ein britischer Kollege. Doch im persönlichen Gespräch gibt sich Schellnhuber ungekünstelt und aufgeschlossen. Unter seinen Kollegen gilt er als Paradiesvogel. Der PIK-Direktor erscheine im bedruckten T-Shirt zu Sitzungen hoher Gremien, erzählt ein Klimatologe. Ein anderer erinnert sich, dass Schellnhuber als junger Forscher wie selbstverständlich Dienstwagen und Chauffeur des Präsidenten seines damaligen Forschungsinstituts auslieh. Er soll sogar versucht haben, das Wort "Science" in der internationalen Forschersprache durch das deutsche Wort "Wissenschaft" zu ersetzen, das sei der treffendere Ausdruck. Ein paar britische Kollegen soll er bereits überzeugt haben.
Schellnhuber sitzt entspannt zurückgelehnt hinter seinem imposanten dunklen Schreibtisch auf dem Telegrafenberg. Zwischen Aktenbergen und Büchern sind hinter Stapeln roter Ordner nur Kopf und Schultern zu sehen. Kaum einmal hat er im Labor gestanden und Messreihen durchgeführt. Auch die Zeit, als er mathematische Formeln entwickelte, um Naturereignisse zu simulieren, ist vorbei. Schellnhuber hat sich nun vor allem dem Delegieren von wissenschaftlicher Arbeit gewidmet. Trotz aller Aufgaben sei er "zu 80 Prozent Wissenschaftler", betont er.
Allerdings einer, der im Politikberater-Dilemma steckt: Politiker wollen wissen, wie die Zukunft wird, doch Wissenschaft ist keine Wahrsagerei. Das Unwissen über das Klima sei größer als das Wissen, räumt er ein - wenn man ihn danach fragt. Politiker jedoch halten sich mit Bedenken nicht mehr auf. Und sie zitieren unentwegt Schellnhuber: "Die Wirtschaft kann mit Klimaschutz Geld verdienen" - eine Maxime Schellnhubers seit den 1990er Jahren - wurde längst zum Leitsatz deutscher Umweltpolitik.
Die Mahnungen werden eindringlicher
Der Potsdamer Wissenschaftler hat die Wucht des Themas als einer der Ersten erkannt: Bereits vor zehn Jahren holte er Spitzenforscher an sein Institut, um die Kosten des Klimawandels berechnen zu lassen - ein Politikerthema: Wer sagen kann, auf welche Weise Treibhausgase eingespart werden können, ohne der Wirtschaft allzu sehr zu schaden, der erlangt die Deutungshoheit über das derzeit wohl bedeutendste politische Thema.
Allmählich verliert Schellnhuber allerdings die Geduld, seine Mahnungen klingen immer eindringlicher. "Dies ist die letzte wissenschaftliche Mahnung an die Delegierten in Kopenhagen", warnte er vor Beginn der UN-Klimakonferenz anlässlich der Veröffentlichung eines Pamphlets, das er zusammen mit 25 Klimaforschern verfasst hat. Im Oktober rief er gemeinsam mit 60 Nobelpreisträgern die UN dazu auf, die Weltwirtschaft zu reformieren. Bereits im "Potsdamer Memorandum" von 2007 hatte Schellnhuber mit Nobelpreisträgern eine "Große Transformation" der Zivilisation gefordert; die Wissenschaftler-Elite war im Herbst 2007 der Einladung nach Potsdam gefolgt. Damals war auch Kanzlerin Merkel noch ans PIK gekommen.
Geht Merkel auf Distanz?
Doch mittlerweile scheint die Bundesregierung auf Distanz zu gehen. So nahm kein Regierungsvertreter sein jüngstes Klima-Gutachten des "Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen" (WBGU) entgegen. Der von Kritikern erhobene Vorwurf, Schellnhuber lasse sich von der Politik instrumentalisieren, konnte damit immerhin entkräftet werden. Allerdings scheint sein Einfluss zu schwinden. An der Welt-Klimakonferenz in Bali 2007 nahm er noch als persönlicher Berater der Bundeskanzlerin teil, in Kopenhagen ist er nur noch normales Mitglied der deutschen Delegation.
Lässt die Radikalität seiner Forderungen die neue Bundesregierung auf Abstand gehen? Im WBGU-Gutachten fordert Schellnhubers Beirat eine "Weltklimabank": Jedem Land solle demnach "Atmosphärenkapital" zugeteilt werden, unter Berücksichtigung der "historischen Verantwortung" beim Treibhausgas-Ausstoß. Deutschland hat demnach sein "Kohlendioxid-Guthaben" aufgebraucht, es müsste künftig Emissionsrechte bei Schwellenländern kaufen. Die meisten Industrienationen müssten ihren Ausstoß von Treibhausgasen in den nächsten Jahren demnach einstellen, wollen sie nicht Milliardenzahlungen an aufstrebende Nationen in Kauf nehmen.
Bei ihm geht es immer um die Welt
Schellnhuber liebt es, Welt-Strategien zu entwerfen. Sein "Potsdamer Memorandum" sieht eine kontinentale Arbeitsteilung vor: Die gemäßigten Breiten produzieren Nahrung, die Subtropen Sonnenenergie, und die Tropen dienen der Erholung und der Erhaltung der Artenvielfalt. Der Vorwurf, er würde damit zum Totalitarismus aufrufen, entsetzt Schellnhuber: "Ich bin der Letzte, der den Leuten etwas vorschreiben will", sagt er. Er fahre schließlich BMW und halte "nichts vom erhobenen moralischen Zeigefinger". Er entwerfe lediglich Visionen.
Auf der UN-Tagung in Kopenhagen wird ihm wohl keiner widersprechen. Dort versuchen die Delegierten, den Utopien Schellnhubers näherzukommen. Gelingt es ihnen jedoch nicht, einen Vertrag zur Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen zu schließen, könnte die Staatengemeinschaft bald andere Wege suchen, dem Klimawandel zu begegnen. Ob sie dann weiterhin auf die Ideen des Überfliegers aus Deutschland setzen wird, ist unklar. "Ewig" wolle er ohnehin nicht Politikberater bleiben, sagt Schellnhuber. "Irgendwann konzentriere ich mich wieder ganz auf die Wissenschaft".