Ein 19-jähriger Finne spaziert an einem Nachmittag vergangene Woche zum 2713 Meter hohen, vom Föhnsturm umwehten Watzmann, bekleidet mit Turnschuhen, Pullover und Jogginghose – eine hochalpine Tour, für die man mit warmer Kleidung, Steigeisen und Eispickel ausgestattet sein sollte und Berg- und Klettererfahrung braucht. Um 20 Uhr melden ihn seine Freunde als vermisst, die Bergwacht schickt einen Helikopter, der ihn eineinhalb Stunden später mit Wärmebildkamera ortet und ihn mithilfe einer Seilwinde rettet. Nur drei Tage später geraten beim Abstieg vom Watzmann drei Wanderer aus Rheinland-Pfalz auf einem Schneefeld ins Rutschen. Zwei können sich noch festhalten, der dritte stürzt eine Steilwand hinab in den Tod. Über ihre Ausrüstung ist nichts bekannt – aber haben auch sie sich überschätzt?
Ich bin gebürtiger Bayer und schätze mich als einigermaßen bergerfahren ein. All die Touristen und Touristinnen aus Japan, Spanien oder den USA, die leicht bekleidet auf Bergtour gehen, belächle ich gerne. Die Spottlust ist mir vergangen, als ich mich vor fünf Wochen plötzlich selbst in einer bedrohlichen Lage befand. Auf einem Weg, den ich als kurzen Spaziergang eingeschätzt hatte. Die Lehren, die ich daraus ziehe: Nie wieder werde ich die Berge unterschätzen, nie wieder ohne die nötige Ausrüstung "mal eben schnell" einen Hang queren, auch wenn ich glaube, ihn gut zu kennen.
Alle waren im Spaziergang-Modus, mein Herz aber raste, als ich in die Tiefe blickte
Der Hang lag in diesem Fall auf dem Weg von der Bergstation der Seilbahn des populären Münchner Hausbergs Herzogstand zum Gipfel. Im Sommer ist das ein maximal einstündiger Spaziergang, vor einigen Jahre führte ich meine Mutter, weit über 80 Jahre alt, am Arm dort entlang. Der Berg fällt zwar recht steil ab, aber der Weg ist breit genug für den sicheren Tritt. Als ich jetzt aber mit meiner Frau und einer Freundin dort war, lag er unter einer Schneedecke, Betreten auf eigene Gefahr. Der Schnee hatte den Weg verweht, gelegentlich brauchte man die Hände, um sich an einer Wurzel oder einem Zweig festzuhalten. Den beiden bergunerfahrenen Frauen, mit denen ich unterwegs war, genügte das – sie hatten neue Wanderschuhe. Meine aber sind, ich weiß es gar nicht mehr genau, zehn oder fünfzehn Jahre alt. Ihr Profil sah noch recht gut aus, da ich nicht viel gewandert war in den vergangenen Jahren. Aber: Ich fand kaum Halt.
Es war eine seltsame Situation, weil es an diesem sonnigen Tag im März nicht wenige Freizeitwanderer zum Gipfel zog, und ich sah keinen, der so offensichtliche Probleme hatte wie ich. Alle anderen waren im Spaziergang-Modus, mein Herz aber raste, als ich in die Tiefe blickte. Würde ich den Halt verlieren, könnte ich leicht mehrere hundert Meter den Hang hinabrutschen und dann vielleicht gegen einen Baum prallen.
Die Verlockung des nahen Gipfels
War meine Angst übertrieben? Normalerweise wäre ich zurückgegangen, doch meine beiden Begleiterinnen waren schon außerhalb der Rufweite, und so quälte ich mich Meter für Meter, immer wieder auf allen vieren, voran. Die vermeintliche Harmlosigkeit der Situation, mein Stolz, die Verlockung des nahen Gipfels, all das spielte wohl zusammen.
Mir ging die Geschichte eines Bekannten aus Irland durch den Kopf, Joe, der vor ein paar Jahren mit drei Freunden die Zugspitze hochwanderte. Es war früher Oktober, die Sonne schien, leicht bekleidet und ohne Handschuhe stiegen die vier auf. Auch sie gerieten in gefährliches, verschneites Gelände, drei der vier wollten umkehren, einer wollte weiter hoch. Joe sagte: "Ok, aber du gehst nicht allein, ich begleite dich." Einige Zeit später, die beiden Rückkehrer sonnten sich schon auf der Bergstation der Zugspitze, sahen sie, wie einer der beiden über den Schnee glitt und eine Steilwand hinabfiel. Sie informierten sofort die Bergwacht. Es war der ambitionierte Freund von Joe. Er erlitt ein Polytrauma mit Wirbelsäulenverletzung und schlitterte haarscharf an einer Querschnittlähmung vorbei. Joe bezahlte seine Solidarität mit gefährlichen Erfrierungen seiner Finger – es war zunächst nicht klar, ob er sich einer Amputation unterziehen müsste.
Bergwacht-Einsatzleiter: Immer mehr Freizeitwanderer überschätzen ihr Können
Nehmen solche Unfälle in den vergangenen Jahren zu? Zieht es immer mehr Menschen ohne entsprechende Erfahrung und Ausrüstung in die Berge? Klaus Burger, Einsatzleiter der Bergwacht Bayern, gibt eine differenzierte Antwort. Insgesamt nehme die Zahl der Rettungseinsätze nicht zu, auch bezweifele er, dass das Equipment der Freizeitwanderer schlechter sei als früher – von Ausnahmen abgesehen. Es gebe zwar immer weniger Unfälle, gleichzeitig aber steige die Zahl der "blockierten Personen" – Menschen, die ihr Können massiv überschätzten, die Wegmarkierungen nicht mehr fänden und sich verirrten, nicht mehr umkehren könnten oder in Klettersteigen überfordert seien – und die dann den Notruf verständigen. "Das sind vor allem junge Bergsteigerinnen und Bergsteiger, die aus alpenferneren Gegenden kommen", sagt Burger. Früher habe man das Bergsteigen noch erlernt, mit Onkel, im Alpenverein, in Freundesgruppen, mit dem Vater. "Man hat sich langsam an die Gefahren herangetastet. Heutzutage hüpfen viele von einer Kletterhalle direkt in steile Wände, und da fehlt es halt noch an Erfahrung und gesunder Selbsteinschätzung."
Mein Problem mit dem Halt meiner Wanderschuhe habe ich inzwischen geklärt. "Nach sieben bis zehn Jahren ist der vulkanisierte Gummi, aus dem die Profile gemacht sind, so ausgehärtet, dass man sie wechseln sollte", sagt der Hersteller meines Schuhs, Lukas Meindl, den ich anlässlich dieser Recherche nun persönlich gesprochen habe. Eine Lösung wäre, sie mit einer Drahtbürste wieder aufzurauen. Da die Schuhe aber vermutlich schon sehr alt sind, gehe ich lieber auf Nummer sicher und werde sie nun neu besohlen lassen, was mich schlappe 125 Euro kosten wird - allerdings inklusive einer Rundumerneuerung, die auch das Fußbett und sogar die Schnürsenkel umfasst.
Aber auch mit neu besohlten Schuhen werde ich im März nie wieder ohne Schneeketten für Schuhe, auch "Grödeln" genannt, in die Berge ziehen. Und Wanderstöcke sind auch eine gute Idee. Beides besitze ich – an jenem sonnigen Märztag aber lagen sie im Kofferraum des Autos unten am Parkplatz des Herzogstands.