Anne Will Wehklagen und Zerreißproben: Man könnte denken, die Bundesregierung sei das größte Opfer im Ukraine-Krieg

  • von Arian Yazdani Kohneschahry
Die Gäste sitzen bei Anne Will im TV-Studio
Anne Will: Ukraines Außenminister Kuleba ist live zugeschaltet und nutzt die Sendung für eigene Forderungen
© NDR/ Dietmar Gust
Wie kann Putins Krieg beendet werden? Darüber sollte die Talkrunde bei "Anne Will" diskutieren. Am Ende ging es aber doch wieder viel zu oft um die Frage, ob Deutschland sofort auf russische Energielieferungen verzichten sollte.

Seit mehr als zwei Wochen bombardiert Russland die Ukraine. Opfer der Gefechte sind immer wieder auch Zivilisten. Die Ukrainerinnen und Ukrainer leisten weiterhin Widerstand gegen die russischen Truppen. Viele haben die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung längst aufgegeben. Am Donnerstagabend versuchte angeblich Altkanzler Gerhard Schröder zu vermitteln und traf sich mit Wladimir Putin. Der russische Präsident hält aber wohl weiterhin an seinen Kriegsplänen fest.

Zu Gast bei Anne Will:

Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen), Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister

Lars Klingbeil (SPD), Parteivorsitzender

Claudia Major, Politikwissenschaftlerin,

Katja Petrowskaja, Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin

Roderich Kiesewetter (CDU), Mitglied des Bundestags und Oberst a.D.

Dmytro Kuleba, Außenminister der Ukraine

Zunächst sprach Anne Will mit dem zugeschalteten Vizekanzler Robert Habeck, der erneut betonte, wie wichtig es sei, dass die Bundesregierung nicht überstürzt handle. Ein unüberlegter Schritt könnte dazu führen, dass man selbst bereits beschlossene Maßnahmen nicht mehr durchstehen könnte. Habeck äußerte sich bemerkenswert ehrlich, als er von einer "elenden Situation" sprach, in der sich die Bundesregierung aufgrund der Abhängigkeit von russischen Energielieferungen befinde. Dies sei "bitter und moralisch nicht schön." Der Wirtschaftsminister gab zu, dass die Bundesregierung nicht alles gegen Russland tun würde – auch um eine weitere Eskalation, die zu einem möglichen dritten Weltkrieg führen könnte, zu verhindern. Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja konnte bei diesen Worten nur müde lächeln.

"Jetzt sind wir alle in der Falle", sagte Petrowskaja. Putin braucht ohnehin keine Tatsachen, um für weitere Eskalationen zu sorgen, sagte die Schriftstellerin. Sie sei überzeugt, dass es in diesem Krieg längst nicht mehr nur um die Ukraine ginge. Wir alle seien schon in diesem Krieg und seien bedroht. Die Kämpfe in unmittelbarer Nähe zu ukrainischen Atomkraftwerken könnten auch eine große nukleare Bedrohung für Europa darstellen. Weiter wollte Petrowskaja ihren Gedanken aber nicht ausführen. Auch Anne Will zeigte keinen Willen, weiter nachzuhaken. Petrowskaja wollte aber sowieso viel lieber über Menschenleben sprechen. Besonders wichtig war es ihr gewesen, dass die ukrainischen Regierungsvertreter, die sie als "brilliante Menschen" bezeichnete, am Leben bleiben. Dafür seien viel mehr Waffenlieferungen und alle möglichen Maßnahmen nötig.

"Russland kommt fast in die Lage von Nordkorea"

Von Claudia Major waren in dieser Sendung keine kritischen Töne zum Agieren der Bundesregierung im Ukraine-Krieg zu hören. So harte Sanktionen hätte sie sich vor einigen Wochen überhaupt nicht vorstellen können. Russland sei dadurch fast in der Lage von Nordkorea. Dennoch dürfe man sich wirtschaftlich nicht selbst schwächen. Am Ende würde davon auch die Ukraine nicht profitieren, sagte die Politikwissenschaftlerin, die zudem auch nicht müde wurde, immer wieder zu betonen, wie schwer die aktuelle Situation für die Regierungsvertreter doch sei. Im Zuge dessen fiel auch immer wieder der Begriff "Zerreißprobe". Bei all diesen dramatischen Worten könnte man einen Moment lang fast denken, dass die Bundesregierung das größte Opfer in diesem Krieg sei.

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CDU-Politiker Roderich Kiesewetter hatte kaum überraschend eine ganz andere Meinung. Der Druck auf Putin sei in Russland groß genug, daher wäre es nun an der Zeit, dass man selbst Forderungen stellt, sagte der Bundestagsabgeordnete und forderte den Stopp der Gaspipeline Nord Stream 1. Dafür bot er Lars Klingbeil sogar seine Unterstützung an. Der SPD-Parteivorsitzende fand Kiesewetters Angebot scheinbar nicht ganz so interessant und entgegnete ihm damit, dass aktuell vor allem CDU-Politiker Unterschriften gegen gestiegene Spritpreise sammeln oder mit Selfievideos protestieren, wie es der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans in der vergangenen Woche tat und dafür reichlich Spott erntete.

"Deutschland hat dazu beigetragen, die Macht von Russland aufzubauen"

Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wurde live ins Studio zugeschaltet. Diese Gelegenheit nutzte er, um Forderungen an die Bundesregierung zu stellen – auch wenn er selbst davon sprach, dass man nichts fordere, sondern sich nur Dinge "in gutem Willen erhoffe." Dazu zählen weitere Waffenlieferungen, härtere Sanktionen gegen Russland und eine Mitgliedschaft der Ukraine in der EU. Die USA seien laut seinen Informationen mehrmals bereit gewesen härtere Sanktionen zu beschließen, doch Deutschland habe immer wieder gebremst.

Inmitten seiner Erklärungen sorgte Kuleba für einen kuriosen Moment, als er Deutschland eine groß angelegte Verteidigungszusammenarbeit mit Russland vorwarf. Man habe in den vergangenen Tagen in Infanteriefahrzeuge der russischen Truppen hineingeschaut und festgestellt, dass wesentliche Komponenten vom deutschen Hersteller Bosch geliefert wurden. Bosch sei dabei nur ein Beispiel, sagte Kuleba. Katja Petrowskaja konnte in diesem Moment nur noch schockiert nach unten blicken. Schade nur, dass Anne Will hinterher keine Notwendigkeit sah, mit SPD-Chef Klingbeil über diese Vorwürfe zu sprechen.