In der Ukraine greift die "orange Revolution" langsam, aber sicher auf die Staatsmacht über. Es ist die gleiche schleichende Entwicklung wie bei den Machtwechseln in Polen, der DDR und der Tschechoslowakei 1989, in Jugoslawien 2000 oder in Georgien 2003. Auch in Kiew scheinen sich der amtierende Präsident Leonid Kutschma und sein offizieller Nachfolger Viktor Janukowitsch nicht mehr 100-prozentig darauf verlassen zu können, dass die Behörden loyal sind und ihre Macht notfalls mit Gewalt durchsetzen werden.
Unter den Demonstranten rund um das Präsidialamt in Kiew tauchten am Freitag auch Studenten der Polizeiakademie auf. Die Angestellten der Nationalbank in Kiew hängten orange Fähnchen aus den Fenstern. Orange ist die Farbe ihres früheren Chefs Viktor Juschtschenko, der jetzt um das Präsidentenamt kämpft.
Generäle haben Angst
Armee, Polizei und Geheimdienst schwiegen nicht so eisern, wie es diesem Berufsstand eigentlich zukäme. Offenbar gibt es hinter den Kulissen Diskussionen, ob ein möglicher Schießbefehl befolgt wird. Im Innenministerium hätten die Generäle Angst, sagen Kenner des Apparats. Die zweite Ebene der Obersten stehe innerlich auf Seiten Juschtschenkos. Sie wollten schließlich selbst Generäle werden.
Der Kommandeur der Streitkräfte im Militärbezirk Westukraine, Generalleutnant Michail Kuzin, reagierte leicht genervt auf ständige Fragen der Opposition, ob er "an der Seite des Volkes steht". Die Armee wolle neutral sein. Aber seine Zusicherung, "dass sich die Einheiten des Westkommandos nicht gegen das eigene Volk einsetzen lassen werden", ist in Umbruchszeiten Gold wert.
Polizisten demonstrieren
In der westukrainischen Oppositionshochburg Lwow (Lemberg) hissten 300 Verkehrspolizisten orange Wimpel auf ihren Dienstwagen und unterstellten sich Juschtschenko. 100 Polizisten, das orange Band an der Uniform, reisten aus Lwow zum Zeltlager der Opposition nach Kiew. "Sie sind ohne Dienstwaffen gefahren und wollen dem Zeltlager kompetenten Schutz anbieten", sagte ein Sprecher des Stadtrates.
Auf einer Oppositionskundgebung in Kiew rief ein General des Inlandsgeheimdienstes SBU seine Kollegen auf, sich nicht länger gegen das Volk zu stellen. Auch der frühere Ministerpräsident und SBU-Chef Jewgeni Martschuk, der immer noch Einfluss im Apparat hat, riet den Geheimdienstlern, keine illegalen Befehle zu befolgen. "Wir wissen, dass man auch ohne Waffen Gewalt anwenden und Menschenmassen in Panik versetzen kann", sagte Martschuk.
Redakteure treten zurück
Auch in den bislang linientreuen Staatsmedien regt sich Protest. Von Kutschmas Stabschef Viktor Medwedtschuk mit genauen Regieanweisungen versehen, hatten die Fernsehkanäle den gesamten Wahlkampf hindurch gegen Juschtschenko Propaganda gemacht. Beim Hauptkanal "1+1" traten nun Nachrichtenredakteure und - sprecher reihenweise zurück.
Sogar die vorsichtige Zunft der Diplomaten äußerte versteckt ihre Unterstützung für Juschtschenko. Die Ukraine sollte von einem Präsidenten geführt werden, "der ein wirkliches Mandat des Vertrauens des Volkes hat", forderten 300 Mitarbeiter des Außenministeriums. Sie nannten keine Namen, aber als Präsident mit moralischer Autorität war wohl kaum der vorbestrafte Janukowitsch gemeint.