Leid des Krieges Ärztin Taira dokumentierte mit Kopfkamera den Horror von Mariupol. Nun ist sie in russischer Gefangenschaft

Teilweise ist Taira auch selbst auf den Aufnahmen zu sehen, so wie hier am 27. Februar, kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges
Teilweise ist Taira auch selbst auf den Aufnahmen zu sehen, so wie hier am 27. Februar, kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges
© Screenshot Twitter Associated Press
Eine ukrainische Feldärztin hat schreckliche Bilder im umkämpften Mariupol aufgenommen. Mit einer Kopfkamera filmte sie das alltägliche Leid und übergab die Daten an Journalisten. Nun ist Taira, wie sie genannt wird, in russischer Gefangenschaft.

Es sind Bilder, die das Grauen des Krieges aus erster Hand zeigen: 256 Gigabyte Material, gefilmt über mehr als zwei Wochen im umkämpften ukrainischen Mariupol, verletzte Soldaten und Zivilisten, ein Junge, der den Kampf gegen den Tod verliert. Aufgenommen hat sie die Feldärztin Yuliia Paievska, die in ihrer Heimat Ukraine nur als "Taira" bekannt ist. Wir können diese Bilder sehen, weil Taira sie an Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) übergab, die letzten unabhängigen Journalisten, die Anfang März noch aus der Stadt berichteten. Die Reporter schmuggelten die Speicherkarte, nicht größer als ein Fingernagel, in einem Tampon durch 15 russische Kontrollpunkte bis ins ukrainisch kontrollierte Gebiet. 

Die Aufnahmen stammen aus den ersten Tagen des Krieges, Ende Februar Anfang März. Sie zeigen wie Taira mit ihren Kollegen um viele Leben kämpft. Und nicht immer geht es dabei nur um Soldaten. Laut AP zeigen mehrere Stunden Material, wie die Ärzte verwundete Kinder behandeln, darunter ein Geschwisterpaar. Auf den Bildern ist zu sehen wie der Junge trotz der Behandlung stirbt und Taira weinend gegen eine Wand im Operationssaal lehnt.

Auf anderen Bildern ist zu sehen, wie sie russische Soldaten behandelt, auch gegen Widerstände von ihren Landsleuten. In einem Dialog mit einer Frau erklärt sie, dass sie zwar nicht glaubt, die Russen würden sie genauso behandeln. Sie habe aber als Ärztin keine andere Wahl. "Es sind Kriegsgefangene", sagt Taira. Sie legt etwa eine Decke um einen russischen Soldaten im Rollstuhl, weil dieser zittere. Ein ukrainischer Soldat verhört den jungen Mann, der nach eigener Aussage aus der Region Moskau stammt, fragt ihn, warum er gekommen ist, um Ukrainer zu töten. Taira klopft dem ukrainischen Soldaten auf die Schulter, sagt: "Es ist genug, Offizier." An anderer Stelle wird ein gefesselter russischer Soldat unsanft von einem Ukrainer gepackt, woraufhin Taira zu ihm sagt: "Beruhig dich, Beruhig dich."

Yuliia Paievska, genannt Taira, ist ein Star in der Ukraine

Die 53-jährige Taira ist in der Ukraine eine Berühmtheit, nimmt als Athletin an Wettbewerben teil und hat eine landesweite Staffel freiwilliger Sanitäter trainiert. Während der Aufnahmen macht sie immer wieder Witze, um Verletzte aufzumuntern, nennt ihre Patienten "Sonnenschein" und "Süße" und hat meist ein Kuscheltier dabei, falls sie sich um Kinder kümmern muss. 

Am 16. März, nur wenige Tage, nachdem Taira ihre Aufnahmen an die Journalisten übergab, verschwand sie zusammen mit ihrem Fahrer. Wenig später verkündeten die Russen in den Staatsmedien ihre Festnahme. Sie habe versucht in Verkleidung aus Mariupol zu fliehen. Russland wirft ihr vor, für das nationalistische Azov Bataillon zu arbeiten. In der Logik der Russen und ihrer angeblichen "Entnazifizierung" der Ukraine ist Taira eine legitime Kriegsgefangene.

Laut AP wurde sie am 21. März im russischen Fernsehen vorgeführt. Auf den Aufnahmen sehe sie müde und mitgenommen aus und lese eine Nachricht ab, die ihr unter der Kamera hingehalten werde, in der sie sich für ein Ende der Kämpfe einsetzt. Eine Stimme aus dem Off setze dabei sie und ihre Kollegen mit Nazis gleich. Es ist das letzte Lebenszeichen von Taira.

Im Ukraine-Krieg haben beide Seiten wiederholt Kriegsgefangene vor Kameras gezerrt und sie Statements vorlesen oder Fragen beantworten lassen, obwohl diese Praktik im humanitären Völkerrecht eigentlich als unmenschlich und unwürdig verurteilt wird.

Vereinte Nationen berichten von vielen Verschleppungen

Nach Recherchen der Associated Press ist Taira kein Mitglied des Azov Bataillons und habe auch keine Verbindung zu den teilweise umstrittenen Kämpfern. Das Krankenhaus, in dem viele der Aufnahmen aus Mariupol entstanden sind, steht demnach auch in keiner Beziehung zu dem Bataillon. Auf den Videos selbst ist Taira zudem dabei zu sehen, wie sie auch russische Soldaten behandelt.

Die ukrainische Ärztin ist nur ein prominenter Fall von vielen. Die Vereinten Nationen zählten Anfang Mai mehr als 200 Verschleppungen aus den von Russland besetzten Gebieten, darunter 169 Männer, 34 Frauen und ein Junge. Einige von den Verschleppten sollen gefoltert oder misshandelt worden sein, manche wurden später tot aufgefunden.

Taira wohl nach wie vor in russischer Gefangenschaft

Laut der AP versuchte die Ukraine vor einigen Wochen Taira bei einem Gefangenenaustausch mit auf die Liste zu setzen, aber die russische Seite würde behaupten, dass sie gar nicht in Russland inhaftiert sei. Obwohl im russischen Fernsehen von ihrer Festnahme berichtet worden sei und ja sogar ein Video von ihr in russischer Gefangenschaft existiere. Die ukrainische Regierung wollte sich demnach nicht zu dem Fall äußern.