Anschlagserie in Bombay "Diese Züge nutzt jeder"

Fast 200 Menschen sind bei den Anschlägen auf Pendlerzüge in Bombay gestorben. Im stern.de-Interview berichtet der indische Journalist Vikram Doctor, wie die Stadt auf den Horror reagiert - und weshalb er weiterhin Zug fährt.

Herr Doctor, wie würden Sie die Stimmung in der Stadt beschreiben. Ist eine Panik ausgebrochen?

Nein, nein. Am Anfang war es ein Schock. Die Fernsehsender haben Bilder der Körper der Opfer gezeigt, aber auch von Menschen, die geholfen haben, die versucht haben, Verwundete zu pflegen, ihnen Wasser zu geben. Aber der Fokus hat sich schnell verschoben. Die Menschen haben nur noch versucht, nach Hause zu gelangen. Hier in Bombay sind die Menschen mittlerweile ziemlich gut darin, mit Krisen-Situation umzugehen. Es gab Überschwemmungen und, ehrlich gesagt, auch schon zuvor vergleichbare Bombenanschläge.

Weshalb ist Bombay das Ziel der Terroristen und nicht die Hauptstadt Delhi?

Zum einen sind die Sicherheitsvorkehrungen in Delhi strenger, denn es ist die Hauptstadt, und das Parlament hat dort seinen Sitz. Zum anderen ist Bombay, wie auch New York, eine Pendlerstadt. Bombay ist eine lange, schmale Halbinsel. Die meisten Menschen verbringen ihre Zeit damit, diese Halbinsel mit öffentlichen Verkehrsmitteln rauf und runter zu fahren. Und die Züge sind die Schlagader dieser Stadt. Der Verkehr in diesem Zug-System ist weltweit der dichteste. Das macht es Terroristen sehr leicht, hier Chaos auszulösen, indem man eine Bombe in dem System platziert.

Zur Person

Vikram Doctor arbeitet als Redakteur der indischen Wirtschaftstageszeitung "Economic Times" in Bombay.

Ihre Beschreibung erinnert an London, wo die Einwohner den Schrecken von Anschlägen mit einem gewissen Gleichmut begegnen, nach dem Motto: Was können wir gegen den Terrorismus tun? Wir können und wollen unser Leben nicht ihrem Diktat unterwerfen. Ist das in Bombay auch so?

Wir sind an Störungen gewöhnt. Die Menschen leben damit - auch wenn die terroristische Bedrohung schon eine neue Qualität darstellt.

Wer nutzt die Züge?

Jeder. Jeder, der in der Stadt arbeitet, benutzt die Züge - außer, man ist superreich und kann sich ein Auto leisten. Die Züge sehen zwar furchtbar aus, aber sie sind das einfachste Verkehrsmittel, um sich in der Stadt zu bewegen. Es ist ein gutes, verlässliches, billiges System. Auch ich benutze die Züge. Zu der Zeit, als die Bomben hochgingen, wäre ich fast in der ersten Klasse eines ähnlichen Zuges gesessen.

Sie fahren auf der gleichen Strecke nach Hause?

Nicht auf der Strecke, die diesmal betroffen war, aber auf einer anderen Strecke mit der selben Art von Zug.

Werden Sie die Züge jetzt künftig vermeiden und auf ein anderes Verkehrsmittel umsteigen?

Sind Sie verrückt? Das würde keinen Sinn machen. Und wenn Sie es genau betrachten: Trotz der Anschläge ist das öffentliche Verkehrssystem immer noch sicherer als der private Autoverkehr.

Bollywood, die Börse, die Banken, der Handel - attackieren die Terroristen Bombay auch deshalb, weil es Indiens wirtschaftlicher Hot Spot ist?

Ja, klar. Auch das. Sie wollen die Wirtschaft durcheinander bringen. Aber im Großen und Ganzen gelingt das nicht. Die Menschen werden heute wieder zur Arbeit kommen. Und es würde mich nicht einmal überraschen, wenn die Börse heute kurz zulegen würde, bevor sie dann in den kommenden Tagen natürlich nachgeben würde. Aber auch so wird sich die Börse schnell wieder erholen. Und die Züge fahren schon heute wieder.

Haben vergleichbare Anschläge in der Vergangenheit ausländische Investoren abgeschreckt?

Nein, keinesfalls.

Wer steckt hinter den Anschlägen. Handelt es sich bei den Terroristen, wie die indische Regierung vermutet, um Separatisten aus Kaschmir?

Das ist möglich. Allerdings muss man vorsichtig sein: Im ersten Moment eines Anschlags schieben die indische Polizei und die indische Regierung die Schuld grundsätzlich immer den Separatisten aus Kaschmir zu. Bisher weiß man nur, dass es sich um einen von langer Hand geplanten Anschlag handelt. Die Herstellung der Bomben war technisch sehr aufwändig. In den vergangenen Wochen hat es immer wieder Unruhen von Seiten von Hindus und Moslems in der Stadt gegeben. Aber es ist unwahrscheinlich, dass der Anschlag eine Reaktion darauf ist, denn die Planungen müssen schon vor den Unruhen begonnen haben.

Ist die Anschlagsgefahr in Indien gewachsen, seitdem die US-Regierung Indien im März dieses Jahres zu ihrem nuklearen Partner erklärt hat?

Nein, der indische Terrorismus hat mit den USA nichts zu tun. Egal, ob die Tamilen aus dem Süden oder die Einwohner Kaschmirs im Norden Anschläge verüben - es ist immer indischer Terrorismus, um den es hier geht.

Sie glauben also nicht, dass der Anschlag etwas mit einem internationalen Terrorismus-Netz - etwa al-Kaida - zu tun hat?

Nein. Im indischen Zusammenhang spricht niemand über al-Kaida. Al-Kaida-Terroristen mögen zwar behaupten, Terroristen aus Kaschmir seien Teil ihrer Bruderschaft, aber die Terroristen aus Kaschmir gab es vor al-Kaida, und wahrscheinlich wird es sie auch noch geben, wenn al-Kaida tot ist.

Bombay ist ein Reiseziel ausländischer Touristen. Wollten die Terroristen auch der Tourismus-Industrie schaden?

Bombay ist eher eine Durchreise-Stadt für Touristen, die etwa nach Goa im Süden wollen. Außerdem werden die betroffenen Züge selten von Touristen genutzt. Vor wenigen Jahren gab es einen Anschlag, der Touristen stärker bedrohte. Damals explodierte eine Bombe in unmittelbarer Nähe einer Touristenattraktion, des "Gateway of India".

In Bombay gab es immer wieder Anschläge. Ist die Regierung nicht in der Lage, in Bombay für Sicherheit zu sorgen?

Es gibt eine Grenze dessen, was eine Regierung tun kann. Öffentliche Verkehrsmittel sind überall in der Welt leichte Anschlagsziele, sie sind verwundbar. Das trifft auf New York ebenso zu wie auf London. Und in Indien hat Bombay eben die größte Anzahl an öffentlichen Verkehrsmitteln. Jeden Tag drängen unzählige Menschen in die Züge. Die kann man nicht alle durchleuchten und durchsuchen. Ungeachtet dessen wird die Sicherheits-Debatte in den nächsten Tagen wieder aufflammen.

Interview: Florian Güßgen