Bagdadbahn Strategie auf Schienen

Noch heute quälen sich die Waggons über eine Route, die seit tausend Jahren eine wichtige Verbindung in den Nahen Osten ist und seit Marco Polos Reise Seidenstrasse heisst.

Die anatolische Bahn wird ja augenblicklich von der deutschen Presse in den Himmel gehoben. Aber als Geschäft? Du lieber Himmel! Diese Bahn ist nur ein toter Strang, und die Begeisterung Seiner Majestät für Mesopotamien ist ohne tieferen Wert für die deutschen Interessen." Als Georg von Siemens, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, 1899 diesen Brief schreibt, ahnt er nicht, was 1902 links und rechts der Schienen entdeckt wird: Die Bagdadbahn fährt über einen unterirdischen See aus Erdöl. Zehn Jahre später erhält die Deutsche Bank vom türkischen Sultan eine Konzession auf alle Öl- und Mineralvorkommen in einem 20 Kilometer breiten Streifen zu beiden Seiten der Bahnlinie bis Mosul. Von dort soll Mesopotamiens Öl nach Deutschland gebracht werden "Was die heutige Türkei betrifft, so haben wir uns schleunigst zu sichern, was andere Völker uns sonst vor der Nase wegschnappen könnten. Nachdem das deutsche Volk auf Marokko verzichtet hat, sollte es sich mit allen Kräften der asiatischen Türkei zuwenden, um bei deren demnächstiger unausbleiblicher Aufteilung nicht noch einmal leer auszugehen." So beschreibt 1913 Ewald Banse in seinem Werk "Auf den Spuren der Bagdadbahn" die Kolonialgelüste der Deutschen.

Die Briten haben schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts

den Bau einer Eisenbahn in Erwägung gezogen, um den Warenaustausch mit ihrer indischen Kolonie zu vereinfachen. Deutschland will mit dem Schienenstrang eine Achse Berlin-Bagdad errichten. Die Kunst sei es, sich "mit einer Verbeugung vor dem britischen Löwen und einem Knicks vor dem russischen Bären allmählich bis zum Persischen Golf hinabzuschlängeln", erklärt der deutsche Diplomat Mühlberg. Doch die Verbeugung ist nicht tief genug. Die "politische Neutralisierung des Bagdadbahnunternehmens unter voller Aufrechterhaltung der deutschen Führung", wie Karl Helfferich, Direktor der Anatolischen Eisenbahn-Gesell-schaft, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank und stellvertretender Reichskanzler, es ganz unverblümt ausdrückt, scheitert. Die Briten wollen sich an dem Projekt nicht beteiligen.

Als der Erste Weltkrieg ausbricht, sind von 2165 geplanten Streckenkilometern gerade mal 887 in Teilstücken fertig. Trotzdem lassen sich auf den Schienen Truppen des Osmanischen Reichs nun viel schneller von einem Ende zum anderen verlegen. Auf den so genannten Hammelwagen werden dagegen unliebsame Armenier zusammengepfercht zum Sterben in die Wüste gefahren. Deutsche Angestellte der Bahn versuchen, die Aufmerksamkeit der deutschen Behörden auf diesen Völkermord zu lenken. Doch die Türkei ist den Deutschen als Bündnispartner zu wichtig, als dass sie den Unwillen des Sultans zu riskieren wagen.

Noch heute quälen sich die Waggons über Hochebenen und durch tiefe Täler über eine Route, die seit tausend Jahren eine wichtige Verbindung in den Nahen Osten ist. Am 10. Juni 1190 ertrank nur wenige Meter vom heutigen Verlauf der Gleise entfernt Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, auf dem dritten Kreuzzug gen Jerusalem. Hundert Jahre später nahm auch Marco Polo diesen Weg, der fortan Seidenstraße genannt wurde: von Konstantinopel über Konya nach Bagdad, das damals nur ein Zwischenstopp war auf dem Weg nach China.

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Angelika Franz

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