Gaza-Krieg Eine Befreiung kann nur ohne Waffen gelingen: Holt endlich die Geiseln nach Hause

Das Leben in Israel gewinnt an Normalität zurück. Die Erinnerung über die noch immer in der Gefangenschaft der Hamas befindlichen Geiseln ist Teil des Alltags geworden.
Das Leben in Israel gewinnt an Normalität zurück. Die Erinnerung über die noch immer in der Gefangenschaft der Hamas befindlichen Geiseln ist Teil des Alltags geworden.
© Jewel Samad / AFP
Noch immer sind mehr als 130 Israelis in der Gewalt der Hamas. Premier Netanyahu und seine Koalitionspartner scheint das kaum zu kümmern. Höchste Zeit, dass die Bundesregierung daraus Schlüsse zieht.

Binnen weniger Stunden haben am Montagabend zwei Meldungen in Israel die Runde gemacht. Zwei Meldungen, die das schreckliche Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung spiegeln, das die Bürger des Landes seit mehr als drei Monaten nonstop erleben.

+++"Israel bietet Hamas eine Waffenruhe von bis zu zwei Monaten an im Gegenzug für die Freilassung aller Geiseln." +++

+++"21 Soldaten der israelischen Armee sterben bei Hamas-Angriff im südlichen Gazastreifen."+++

Doch machen die Meldungen noch etwas anderes deutlich: Nach 109 Tagen Krieg ist nicht mehr zu leugnen, dass die beiden Hauptkriegsziele, die Israels Regierung ausgegeben hat – Befreiung der Geiseln, Zerstörung der Hamas – einander widersprechen. 

Einer wachsenden Zahl von Israelis wird das dieser Tage schmerzhaft bewusst. Am vergangenen Wochenende demonstrierten Tausende in Tel Aviv, Haifa und andernorts für ein Ende des Krieges und einen Deal zur Befreiung der Geiseln. Mehr als je zuvor seit Kriegsbeginn. 

Die Stimmung in Israel beginnt zu kippen

"Die Stimmung im Land ist dabei, sich zu drehen", sagt Yehuda Shaul, Co-Direktor des Think Tanks Ofek in Jerusalem und Mitgründer der besatzungskritischen Veteranen-Organisation B’Tselem. "Noch ist es keine Mehrheit, aber immer mehr Israelis verstehen: Wir werden die verbliebenen Geiseln mit militärischen Mitteln nicht freibekommen. Und: Es wird nicht gelingen, die Hamas zu eliminieren", so Shaul im Interview mit dem stern. "Was wir militärisch in Gaza noch weiter erreichen können, ist sehr begrenzt."

Ähnlich hatte sich vor wenigen Tagen in einem TV-Interview auch Gadi Eisenkot geäußert, Minister im Kriegskabinett von Premierminister Benjamin Netanyahu und ehemaliger Generalstabschef der israelischen Armee. 

Doch davon wollen Netanyahu und seine rechten Regierungspartner nichts wissen. Nach wie vor schwören sie das Land auf einen langen Krieg ein – mindestens ein Jahr, sagte der Premier vergangene Woche erneut –, verweigern aber jede Antwort auf die Frage, was danach kommen soll. 

Netanyahu und seine Koalitionspartner wollen weiter Krieg führen – ohne über einen Plan für die Zeit danach zu sprechen

Die horrende humanitäre Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen scheint ihnen ähnlich egal wie die Not der eigenen Bürger in den Händen der Hamas. Netanyahus Regierungspartner Itamar Ben-Gvir von der rechten Partei "Jüdische Kraft" droht offen, die Koalition platzen zu lassen, sollte die Regierung sich auf ein Ende des Krieges im Gazastreifen einlassen. Die Initiative für eine vorübergehende Waffenruhe von "bis zu zwei Monaten" als Zugeständnis für die Freilassung der Geiseln wirkt angesichts solcher Äußerungen wie eine Finte.

Nicht an einem Kriegsende interessiert: Israels Premier Benjamin Netanyahu und sein ultrarechter Kabinettskollege Itamar Ben-Gvir (r.)
Nicht an einem Kriegsende interessiert: Israels Premier Benjamin Netanyahu und sein ultrarechter Kabinettskollege Itamar Ben-Gvir (r.)
© Menahem Kahana / AFP

"Diese Regierung schert sich nicht um die Geiseln, weil sie und ihre Familien nicht zu ihrer Wähler-Klientel gehören", sagt der Armee-Veteran und heutige Friedensaktivist Shaul.

Die Bundesregierung sollte sich dieser Lage deutlicher stellen als bisher. "Wir geben nicht auf, wir lassen in unserer Arbeit nicht nach, bis alle Geiseln der Hamas wieder zu Hause sind", hat Außenministerin Annalena Baerbock am 100. Kriegstag auf der Onlineplattform X, früher Twitter, geschrieben. Auf dem Weg zu diesem Ziel helfen pauschale Solidaritätsbekundungen allein aber genauso wenig wie die offenbar geplante Lieferung deutscher Panzermunition an Israels Armee – so richtig im Grundsatz beides natürlich ist, gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte.

Was helfen würde, wäre eine sofortige, beiderseitige und dauerhafte Waffenruhe im Gazastreifen, als Startsignal für einen Prozess zu einer diplomatischen Lösung. Nur ein solcher bietet zumindest die Chance auf nachhaltige Sicherheit für Israel und Palästinenser. Mit der gegenwärtigen israelischen Regierung wird es ihn nach deren Bekunden aber vorerst nicht geben. 

"Friendly fire" gefährdet die Geiseln

Nach mehr als 100 Tagen Krieg ist ungewiss, was Israel mit weiterer Militärgewalt im Gazastreifen noch erreichen kann. Klar ist: Eine Fortsetzung des Kriegs würde das Leben der verbliebenen Geiseln gefährden. Und das vieler weiterer palästinensischer Zivilisten. Die Hamas treibt mit dem Leben der Gefangenen ein zynisches Spiel, auch "friendly fire" der eigenen Armee wird deshalb zunehmend zur tödlichen Gefahr für die Entführten.

Deutschland könnte gemeinsam mit den USA mehr als andere tun, um in Jerusalem für ein Umdenken zu sorgen. Wenn die Sicherheit der Bürger Israels zur deutschen Staatsräson gehört, dann sollte das am allermeisten für diejenigen von ihnen gelten, die sich seit 109 Tagen in Geiselhaft der Hamas befinden.