Der finnische EU-Ratspräsident Matti Vanhanen sagte nach dem ersten Tag des Gipfels in der Nacht zum Freitag: "Die Kriterien (für die Aufnahme weiterer Staaten) müssen vollständig eingehalten werden." Die EU reagiert damit auf die wachsende Skepsis vieler Wähler gegenüber dem Beitritt weiterer Staaten. Obwohl der aktuelle Streit um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei bereits im Vorfeld des Gipfels entschärft worden war, wurden erneut die Meinungsunterschiede in der EU deutlich. Der Gipfel markiert den Übergang zur deutschen EU-Präsidentschaft.
Aufnahmefähigkeit der EU stärker beachten
Vanhanen und EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso sprachen nach dem ersten der beiden Gipfeltage von der Entstehung eines neuen Konsens, der die Aufnahmefähigkeit der EU und die Beitrittsfähigkeit der Kandidaten stärker in den Blick nehmen wolle. "Wir müssen die strategische Vision der Erweiterung mit der Aufnahmefähigkeit der EU kombinieren", sagte Barroso. Auch die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens zum 1. Januar 2007 wird in vielen der derzeit 25 Mitgliedsstaaten kritisch gesehen.
Vanhanen betonte, die EU erteile weiteren Kandidaten keine Absage: "Wir schließen keine Türen." Die EU hat Staaten des westlichen Balkans wie Serbien und Kroatien die Aufnahme grundsätzlich zugesagt. Es liege nun an den Beitrittskandidaten, die Voraussetzungen zu erfüllen. Künftig sollten Beitrittsverhandlungen aber "transparenter" und für die Bürger durchschaubarer geführt werden. "Wir brauchen einen neuen Konsens mit den Bürgern über die Erweiterung."
Hauptstreitpunkt bleibt Türkei-Frage
Den Hauptstreit der Erweiterungsfrage, der die Verhandlungen mit der Türkei betraf, hatten die EU-Außenminister vor dem Gipfel ausgeräumt. Angesichts der türkischen Weigerung, die Häfen des Landes für das EU-Mitglied Zypern zu öffnen, sollen die Gespräche zum Teil ausgesetzt werden.
"Wir können unsere Standards nicht herabsetzen", sagte Barroso nach einem Abendessen der Gipfelrunde am späten Donnerstagabend in Brüssel. "Alle Kriterien müssen eingehalten werden." Die EU müsse darauf achten, dass sie durch Erweiterungen "nicht geschwächt, sondern gestärkt wird". Er kündigte auch an, die EU-Kommission wolle "die Qualität des Erweiterungsprozesses verbessern". Beispielsweise soll künftig auch über die finanziellen Folgen eines Beitritts berichtet werden.
Polen bringt Ukraine ins Spiel
Trotz dieser Einigung wurden die Meinungsverschiedenheiten in der EU erneut deutlich. Frankreichs Innenminister und Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy sagte bei einem Treffen konservativer EU-Politiker, er wolle nach einem Wahlsieg im Mai die Gespräche mit der Türkei auf eine "privilegierte Partnerschaft" ausrichten, also einen Status unterhalb der Vollmitgliedschaft. Die Vollmitgliedschaft wird auch von CDU und CSU abgelehnt. Der polnische Präsident Lech Kaczynski erneuerte die Forderung seines Landes, wie die Balkanstaaten müsse auch die Ukraine eine Beitrittschance haben.
Auch in zentralen Einwanderungsfragen erzielten die Staats- und Regierungschefs einen Durchbruch. "Wir waren in der Lage, uns auf eine umfassende Migrationspolitik zu einigen", so Vanhanen. Die EU strebt damit erstmals gemeinsame Schritte für eine Politik der legalen Zuwanderung an. Barroso zeigte sich zufrieden mit dem neuen Kurs in der Einwanderungspolitik, der mit dem Schlussdokument des Gipfels an diesem Freitag formell beschlossen werden soll. "Dieses Programm wird Leben retten", sagte er mit Blick auf die Flüchtlingstragödien an Europas Südküsten.
Auch Migrationspoltik bleibt Hauptthema
Laut Beschlussentwurf wird geprüft, wie Möglichk/eiten der legalen Einwanderung in die Außenpolitik der Union eingebaut werden können. Dabei wird eine ausgewogene Partnerschaft zwischen Drittstaaten und der EU angestrebt, die den Notwendigkeiten der jeweiligen Arbeitsmärkte in den Mitgliedstaaten entspricht. Weiterhin soll untersucht werden, wie Gastarbeiter auf Zeit mit Rückkehr-Pflicht leichter in die EU kommen können. Das Ratspapier spricht von "zirkulärer Migration". Zugleich betont das Dokument die nationale Zuständigkeit auf diesem Gebiet.
Barroso erwartet unter deutscher EU-Präsidentschaft große Schritte auf dem Weg zur umstrittenen europäischen Verfassung, die nach dem Nein der Franzosen und Niederländer bei Volksabstimmungen blockiert ist: "Ich glaube, wir werden echte Fortschritte in der nächsten Präsidentschaft machen." Zum Jahreswechsel übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr. "Ich glaube, wir werden echten Fortschritt machen unter der nächsten Präsidentschaft", sagte er. Deutschland soll im ersten Halbjahr 2007 klären, welche Möglichkeiten es in der Verfassungsfrage gibt und dazu im Juni einen Vorschlag machen. Eine Lösung dürfte es nach Ansicht des scheidenden Ratspräsidenten Vanhanen aber erst wie geplant unter französischem Vorsitz Ende 2008 geben: "Ich persönlich glaube, wir brauchen diese Zeit."