Bernhard Friedmann ist keiner, der sich leicht erschüttern lässt. Als CDU-Bundestagsabgeordneter legte er sich in den 80ern sogar mit Kanzler Helmut Kohl an - der tue nicht genug für die deutsche Einheit. Später amtierte Friedmann als Präsident des Europäischen Rechnungshofs und erlebte, wie 1999 die gesamte damalige EU-Kommission über Vorwürfe der Vetternwirtschaft und Korruption stürzte.
Doch nie geriet der heute 78-Jährige so unter Druck, wie an einem Donnerstag im Mai 2000 im EU-Rechnungshof in Luxemburg. An diesem Tag erlebte Friedmann wie es selbst einem hohen europäischen Würdenträger ergehen kann, wenn er zu schonungslos auf Betrug mit EU-Millionen aufmerksam macht. Seine vierzehn Kollegen, vom Finnen bis zum Portugiesen, stellten sich damals gegen Friedmann, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr Präsident, aber weiterhin der deutsche Vertreter im Rechnungshof war. Schlimmer noch: Friedmann musste sogar um seinen Posten fürchten - nicht weil er Geld veruntreut hatte, sondern weil er die Millionen der Steuerzahler verteidigte.
Der Fall Fléchard
Die bis heute unbekannte Geschichte bekam jetzt neue Aktualität. Friedmanns damaliger niederländischer Kollege Maarten Engwirda machte dieser Tage europaweit Schlagzeilen mit einem Interview, das er der heimischen Zeitung De Volkskrant gab. Im EU-Rechnungshof, beklagte der Holländer, habe jahrelang eine Kultur des Verschweigens von Missständen geherrscht - also just in der Institution, die eigentlich auf Verschwendung und Unterschlagung hinweisen sollte.
Engwirda erwähnte auch den Fall, der den historisch wohl einmaligen Streit um Bernhard Friedmann auslöste. Er kostete die europäischen Steuerzahler über 14 Millionen Euro. Mitte der 90er Jahre hatte die EU-Kommission der französischen Firma Fléchard diese Summe erlassen - nach massivem Druck aus Frankreich. Sogar der damalige Pariser Haushaltsminister Nicolas Sarkozy hatte zu Gunsten des Unternehmens in Brüssel interveniert. Fléchard hatte knapp 7000 Tonnen Butter nicht ordnungsgemäß ausgeführt und hätte deshalb eigentlich eine Kaution über 17,6 Millionen Euro zurückzahlen müssen. Doch die EU-Exekutive in Brüssel verzichtete darauf, den Großteil des Geldes einzutreiben - angeblich, um Arbeitsplätze zu retten. Dabei stand die Firma sogar unter Betrugsverdacht. Doch diesem Vorwurf ging die Brüsseler Behörde nie nach.
Ein nicht genehmes Prüfungsergebnis
Bekannt wurde die Sache erst Ende 1998 durch einen anonymen Brief, der damals auch bei Friedmann einging. Der Fall schlug bald hohe Wellen - zumal ein zentrales Dokument, das Licht in die Sache hätte bringen könne, unter mysteriösen Umständen in den Brüsseler Amtsstuben verschwunden war und nie wieder auftauchte. Trotzdem lehnte damals die Kommission Konsequenzen vehement ab. Kein Wunder - zu viele mächtige Brüsseler Beamte waren involviert.
Zusammen mit zwei Kollegen, darunter dem Holländer Engwirda, untersuchte Rechnungsprüfer Friedmann die Causa trotzdem, mit alarmierendem Ergebnis. Für das 14-Millionen-Geschenk an die französische Butterfirma habe die Kommission seinerzeit "keinerlei Rechtsgrundlage" geliefert. Trotz offensichtlicher "Zweifel an der Glaubwürdigkeit" von Fléchard sei auch der Betrugsverdacht nie untersucht worden.
Der EU-Kommission gefiel dieses Prüfungsergebnis des Rechnungshofs nicht - und selbst einige von Friedmanns Kollegen waren unzufrieden. Engwirda beschuldigte jetzt öffentlich den damaligen französischen Repräsentanten im Rechnungshof sogar der "Sabotage".
Die Attacke auf Friedmann
Auch Engwirda war aber nach Informationen von stern.de am 18. Mai 2000 mit dabei, als sein Kollege Friedmann unter Druck gesetzt wurde. Einen Tag zuvor hatte es der Deutsche gewagt, die Rechnungshofkritik im Fall Fléchard in einem Interview in der "Süddeutschen Zeitung" zu bekräftigen. Der Schaden für den Steuerzahler betrage 30 Millionen Mark, bestätigte Friedmann. Und gegen die verantwortlichen EU-Beamten seien Disziplinarmaßnahmen sehr wohl noch möglich.
Friedmann fühlte sich im Recht, denn die Rechnungshofkritik hatte bereits ihren Weg in die Zeitungen gefunden. Trotzdem attackierten ihn seine 14 Kollegen hart. In einem gemeinsam unterzeichneten Brief forderten sie Friedmann auf, "alle seine Verpflichtungen zu erfüllen". Und sie verwiesen auf die einschlägigen Artikel im EU-Vertrag, die es ermöglichen, ein Rechnungshofmitglied seines Amtes zu entheben - wenn der Vertreter "den sich aus seinem Amt ergebenden Verpflichtungen nicht mehr nachkommt".
Friedmann fragte damals die Runde, ob das bedeute, dass man ihn des Amtes entheben wolle. Keiner, so heißt es, habe widersprochen. Aber der Deutsche wehrte sich gegen die Vorwürfe. Er sei ja "ein hoch effizienter Debattenredner" gewesen, erinnert sich heute ein damaliger Kollege aus dem Norden Europas. An den Streit um den Deutschen erinnere er sich aber nur "vage", sagte der Skandinavier stern.de.
Der zerissene Brief
Der Holländer Engwirda, ebenfalls von stern.de befragt, will sich sogar überhaupt nicht mehr an die Episode erinnern. In seiner Erinnerung war er im Konflikt um die Buttersubventionen damals selbst ein einsamer Streiter. Ein weiterer Teilnehmer, der Luxemburger François Colling, sagt zu dem damaligen Streit um Friedmanns Interview: "Ich weiß, dass es einen Brief gab. Mehr weiß ich nicht."
Nach Schilderung eines Beteiligten zerriss schließlich der Generalsekretär des Hofes den Drohbrief eigenhändig. Von stern.de zu dem Vorfall befragt, äußerte sich der Rechnungshof jetzt nicht zu den Details. Ein Sprecher beharrte aber darauf, dass Mitglieder des Hofes die Regeln der Vertraulichkeit "respektieren" müssten.
Parallelen zum Dioxin-Skandal
Friedmann konnte sich damals dennoch in seiner Kritik rasch bestätigt fühlen. Schon im Juni 2000 kam die Firma Fléchard erneut in die Schlagzeilen: Sie hatte tausende Tonnen gepanschter Butter aus angeblichen Mafia-Betrieben in Italien weiter verkauft und - zu Unrecht - 23 Millionen Euro an EU-Subventionen kassiert. Im Februar 2009 verurteilte ein französisches Gericht den zuvor von Brüssel so gehätschelten Firmenchef Guy Fléchard zu zwölf Monaten Gefängnis, davon drei ohne Bewährung.
Friedmann sieht da Parallelen zum aktuellen Dioxin-Skandal. Der ganze Fall zeige, meint er rückblickend, "mit welcher Härte gefochten werden kann, wenn es um Subventionen geht, besonders wenn sie missbraucht werden".