Frau Mlodoch, Sie waren vor zwei Wochen im Irak. Was bedeutet für die Menschen dort die Ausbreitung des sogenannten Islamischen Staats (IS)?
Die Situation ist furchtbar. Wir erfahren das vor allem von den jesidischen Mädchen und Frauen, die es geschafft haben, aus der IS-Gefangenschaft zu fliehen. Sie erzählen schreckliche Geschichten. Sie wurden von einem Kämpfer zum anderen herumgereicht, vielfach vergewaltigt. Sie wurden gequält und bestraft. Sie haben oft mit allen möglichen Mitteln versucht sich umzubringen zum Beispiel mit ihren Tüchern. Besonders perfide: Einerseits sollen sich die Frauen verhüllen, andererseits hat der IS irgendwann mitbekommen, dass die Mädchen ihre Tücher nutzen, um sich zu erhängen und hat ihnen dann auch diese noch weggenommen.
Sind Demütigungen und Vergewaltigungen Ausnahmen im Kriegsgeschehen, oder können Sie dahinter eine Strategie des IS erkennen?
Diese Mädchen werden ganz gezielt als Ware verkauft. Die Unterwerfung anderer religiöser oder auch sozialer Gruppen ist ein strategisches Mittel des IS. In dessen Online-Magazin wurde im Oktober letzten Jahres ganz offiziell und offensiv die Versklavung der Jesidinnen propagiert. Diese Frauen gelten unter den IS-Kämpfern als Kriegsbeute. Die Scharia rechtfertige angeblich deren Vergewaltigung, da sie ja "Ungläubige" seien.
Sind auch Männern von dieser sexualisierten Gewalt betroffen?
Ja, es ist zwar noch ein großes Tabuthema, aber es geschieht durchaus. Im letzten Dezember und Januar sind in Syrien zum Beispiel homosexuelle Männer aus Fenstern geworfen worden. Zunächst wirkte das wie ein Einzelfall, eine erneute Propagandamaßnahme des IS, der alles filmt was in seinem Namen an Brutalitäten geschieht. Dann kamen aber vier, fünf Videos solcher Hinrichtungen in Umlauf. Es lässt sich daher vermuten, dass das eine besondere Methode des Mordens ist. Die Opfer werden auf hohe Gebäude gesetzt und mit verbundenen Augen hinuntergeworfen.
Haben Sie diese Videos gesehen?
Nein, die habe ich mir nicht angeschaut. Das mache ich nie. Das kann ich einfach nicht. Die Brutalität und Menschenverachtung, die dahinter steht, ist oft nicht auszuhalten.
Das Aushalten dieser Geschichten gehört aber sicherlich zu Ihrem Arbeitsalltag in den Krisengebieten.
Ja, leider schon. Eine war wirklich ganz schrecklich. Ich kann mich da an einen Mann erinnern, der im Kontext der US-Invasion in den Irak als Übersetzer zwischen US-Soldaten und einem lokalen Stamm gearbeitet hatte. Als der IS dann seine Stadt erobert hat, wussten sie, dass er mal was mit den Amerikanern zu tun hatte. Er konnte gewarnt werden und ist in ein Lager geflohen. Er hat dann versucht, seine Frau und Kinder nachzuholen, und es ist ihm sogar gelungen, dass sie mit einem Auto aus der Stadt rauskamen. Aber dieses Auto ist dann bombardiert worden, und die ganze Familie umgekommen. Er war so verzweifelt, das hat mich sehr beschäftigt.
Das ist bestimmt kein Einzelschicksal?
Nein, leider nicht. Solche Geschichten gibt es häufig. Viele Flüchtlinge haben Enthauptungen gesehen. Kinder sind Zeugen geworden von diesen öffentlichen Hinrichtungen, teilweise auch die der eigenen Väter. Es ist furchtbar, was diese Menschen durchgemacht haben.
Wie muss man sich die Situation in den Flüchtlingslagern und Städten zurzeit vorstellen?
Die Städte und Lager sind einfach total überfüllt. Die Menschen sind oft in öffentlichen Gebäuden oder auf halb fertigen Baustellen untergebracht. Sie leben dort unter katastrophalen Bedingungen und sind teilweise auch Misstrauen seitens der ansässigen kurdischen Bevölkerung ausgesetzt, die fürchtet, dass unter den Flüchtlingen auch IS-Kämpfer in die Städte gelangen könnten. Also da gibt es aktuell viele Spannungen, aber auch große Solidarität untereinander.
Nach der Flucht und traumatischen Erlebnissen müssen die Flüchtlinge also weiteren Terror fürchten?
Die Stimmung ist wirklich sehr angespannt. Securitychecks an den Grenzen von Bagdad oder der kurdischen Region führen zum Beispiel oft dazu, dass Familien tagelang zwischen den Fronten gefangen sind. Besonders Frauen, die ohne Männer reisen, werden normalerweise erstmal nicht durchgelassen, da häufig der Verdacht besteht, der Mann würde an der Seite der IS kämpfen.
Was tun Sie und ihr Verein konkret, um den betroffenen Menschen zu helfen?
In unserem Einsatzgebiet kümmern wir uns vor allem um die Versorgung von Frauen. Das umfasst häufig auch die Versorgung mit Sachen, die in vielen größeren Hilfslieferungen oft nicht enthalten sind wie zum Beispiel Damenbinden und Unterwäsche. Ganz alltägliche Dinge eigentlich. Dann aber auch Milchpulver, das aufgrund der Vorbehalte von Unicef gegen Trockenmilch meistens nicht im Programm ist. Das ist umstritten, aber viele Frauen sind einfach so geschwächt, traumatisiert und geschockt von ihren Erlebnissen, dass sie ihren Kindern nicht die Brust geben können. Deswegen verteilen wir es, obwohl auch wir keine Freunde des Milchpulvers sind.
Die materielle Versorgung der Menschen steht bei der Nothilfe also im Vordergrund. Aber ist das letztendlich nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein? Die Versorgung mit Alltagsgegenständen wird an der generellen Situation vor Ort erstmal wenig ändern.
Es erleichtert kurzfristig das Leben der Betroffenen, aber reicht natürlich nicht aus. Da gibt es andere Maßnahmen, die langfristig wirken. Zum Beispiel gehen wir in Städten mit sehr vielen Flüchtlingen zu den Stadtverwaltungen und Jugendorganisationen, um die Gemeinden zu unterstützen, die die Vertriebenen aufnehmen. Wir renovieren dann zum Beispiel Sportstadien. Das ist besonders den jungen Leuten sehr wichtig und trägt zur Entspannung der Situation bei. So haben wir auch die Chance, unsere eigentlichen Projekte anzugehen.
Das Ziel ist, den Status der Frau in der irakischen Gesellschaft stärken und damit zum Frieden beizutragen? Ist das nicht ein wenig sehr optimistisch gedacht?
Schon seit den 1990er Jahren gibt es eine starke Frauenbewegung im Irak, die versucht, die Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Die Ausbreitung des IS und dessen fundamentalistischer Terror haben die Situation natürlich erst einmal wieder sehr verschärft. Aus unserer Sicht kann die europäische Öffentlichkeit eine wichtige Rolle einnehmen bei der Unterstützung unabhängiger Frauenorganisationen, die sich gegen Fundamentalismus und Terror stemmen. Es ist möglich, etwas zu verändern.
Wie können Sie bei all dem Terror und den grausamen Geschichten so optimistisch bleiben?
Was mich hoffen lässt, sind die irakischen Frauen selbst. Was die in den letzten Jahren schon alles geschafft haben. Und allen Frauen im Irak ist bewusst: "Der IS muss weg".