Im Eiltempo fährt der kleine weiße Bus durch das Tor der Strafkolonie 54. Ein grauer Wintertag in der ostukrainischen Provinz, selbst der Schnee kann die trostlose Stimmung, die die Adresse Provulok Wischnevij 16 verbreitet, kaum aufhellen. Der Bus bringt ein internationales Ärzteteam zu der seit einem halben Jahr inhaftierten früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Seitdem sie während ihres Prozesses wegen Amtsmissbrauchs aus dem Gerichtssaal heraus verhaftet wurde, soll sich ihr Gesundheitszustand sehr verschlechtert haben, sagen ihre Anwälte und ihre Familienangehörigen. Die 51-Jährige leide vor allem unter starken Rückenschmerzen.
Mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung sind unter anderem zwei Professoren der Berliner Charite in die Ukraine gekommen. Der Neurologe Karl Max Einhäupl und der Chirurg Norbert Haas, sollen mit drei kanadischen Ärzten herausfinden, was der Oppositionspolitikerin fehlt und welche Behandlung nötig ist.
Anhänger haben Angst, ihr Idol überlebt die Haft nicht
Vor dem Gefängnis stehen seit dem Morgen Mitglieder und Unterstützer von Timoschenkos Partei. Nikolai und Vadim, beide Ende 50, haben ukrainische Fahnen in der Hand und machen ihrem Ärger lautstark Luft: "Die wahren Banditen sitzen bei uns nicht im Gefängnis, sondern in den Chefsesseln der Macht", ruft Rentner Nikolai. Er wohnt nicht weit von der Kolonie, in einem der Hochhäuser aus den 1970er Jahren. Sein ganzes Leben habe er als Elektriker gearbeitet, jetzt reicht die Rente nicht und sagen dürfte man auch nichts mehr.
Als die Menge einen Mitarbeiter des Bürgermeisters bemerkt, der die Demonstranten mit dem Handy filmt, kommt es fast zu einem Handgemenge." Jeder noch so kleine Protest wird bespitzelt", schreit eine Frau unter Tränen. Sie ist mit einer Gruppe aus Dnipropetrowsk, der Heimatstadt Timoschenkos, gekommen und hält das Portrait der Inhaftierten wie ein Heiligenbild. Für die 62-jährige Irina ist die Oppositionsführerin längst zur Märtyrerin geworden, viele der Anhänger haben Angst, ihr Idol überlebt die Haft nicht.
Die Regierung lässt sich nicht beeindrucken
Auch Anwalt Sergej Wlassenko teilt solche Befürchtungen: "Timoschenko kann nicht laufen, obwohl die Behörden das Gegenteil behaupten", sagt er stern.de am Telefon. Seit Monaten kämpft er für seine Mandantin. Doch die ukrainische Regierung hat sich weder von Protesten in der Ukraine noch von Kritik der EU und der USA umstimmen lassen. "Ihre politischen Gegner üben Rache an meiner Mutter, ich habe Angst um ihr Leben", sagt die 31-jährige Jewgenija Timoschenko.
Die Befürchtungen sind nicht unbegründet. Immer wieder kommt es zu Todesfällen in ukrainischen Haftanstalten. Die Strafkolonie 54 wurde zwar im vergangenen Jahr modernisiert, doch auch dieses Gefängnis gilt als völlig überbelegt. Mehr als 1000 Frauen, alles Verurteilte mit Langzeitstrafen, sitzen dort nicht nur ihre Strafe ab, sondern arbeiten täglich bis zu zehn Stunden. Über der Einfahrt der Katschanowska 54 wirbt ein Plakat für "Kleidung von bester Qualität, billig und schnell, direkt vom Hersteller". Die Strafkolonie 54 ist auch ein Wirtschaftsbetrieb, die ukrainische Polizei, die Feuerwehr und Teile des Militärs, lassen dort ihre Uniformen schneidern.
Timoschenko ist eine VIP-Gefangene
Die Gefangenen werden zu Arbeiterinnen, für einen Hungerlohn von knapp 50 Euro pro Monat stehen sie an Nähmaschinen und fertigen im Akkord. Bekleidet in dunkelblauen Kitteln aus grobem Baumwollgemisch, mit weißem Kopftuch und in Gummilatschen.
Während die Gefangene Nummer eins der Ukraine, Julia Timoschenko, sich derzeit in einer 37,5 Quadratmeterzelle mit separatem Bad und einer "Mitgefangenen", auf ihren zweiten Prozess vorbereitet, teilen sich normalerweise sieben bis acht Häftlinge so eine Zelle. In den ukrainischen Medien fällt immer wieder das Wort von VIP- oder Hotelunterbringung. Der ehemaligen Ministerpräsidentin, die mit Russland Gasverträge, mit dem Internationalen Währungsfond (IWF) Milliardenkredite und mit der EU die Verhandlungen zu einem Assoziierungsabkommen zu verantworten hatte, wollen die ukrainischen Behörden möglichst keine Extrabehandlungen zugestehen. "Unsere Haftanstalt erfüllt europäische Standards", ließ vor Kurzem Gefängnisdirektor Ivan Perwuschkin über Interfax verlauten.
Gegenüber der Haftanstalt befindet sich eine Kantine, die von den Angestellten der Anstalt genutzt wird. Bei ukrainischer Hausmannskost, Radio und stumm geschalteten Fernsehen sitzen dort am frühen Nachmittag ein paar ältere Vollzugsbeamte, am anderen Tisch Mitarbeiter der Sicherheit. Als die Radionachrichten berichten, das Ärzteteam habe mit der Untersuchung Timoschenkos begonnen, schreit ein Soldat mit zwei Sternen auf der Schulterklappe: "Es ist endlich Zeit, diesem Spiel ein Ende zu machen, sie soll ihre Strafe absitzen und endlich schweigen."
Die Ärzte müssen entscheiden
Timoschenko hat nur wenige Stunden vor dem Besuch der Ärzte in einem Brief aus der Zelle erklärt, sie werde vor dem ukrainischen Regime niemals auf die Knie fallen. Das bedeute auch, dass sie die Arbeit und die blauen Kittel zu verweigert. "Sie wird keine Stunde arbeiten, eher geht sie in den Kerker", erzählt Anwalt Vlasenko stern.de. Bis jetzt besucht er Timoschenko mehrmals in der Woche.
Die Europäische Union hat die Ratifizierung des mit der Ukraine ausgehandelten Assoziierungsabkommens davon abhängig gemacht, dass Julia Timoschenko an den Parlamentswahlen im Oktober 2012 teilnehmen kann. Ob die Visite der internationalen Ärzte dazu beiträgt, wird alleine in Kiew entschieden.
Zunächst hatte Timoschenko eine Begutachtung durch einheimische Ärzte weiter abgelehnt. Das bestätigte ihr Anwalt Sergej Wlassenko am Dienstag. Die 51-Jährige befürchtete, dass ukrainische Ärzte die Ergebnisse fälschen. Der staatliche Gefängnisdienst wiederum erklärte, die Ablehnung ukrainischer Mediziner verstoße gegen die Gesetze der Ex-Sowjetrepublik. Nun hat man sich offenbar geeinigt. Anwalt Wlassenko kündigte an, Timoschenko sei mit einer Untersuchung "im Beisein ukrainischer Ärzte" einverstanden. Noch stehen Ergebnisse aus. Mit einem Abschluss der Untersuchungen wird erst am Mittwoch gerechnet.