Manchmal stelle ich mir vor, ich würde einfach mit dem Maschinengewehr reinhalten und sie alle niedermähen. Aber dann verbiete ich mir solche Gedanken sofort wieder. Wir sind doch hergekommen, um die Menschen zu befreien", sagt Sergeant Nelson. Eigentlich ist er ein friedfertiger Mann, der nach seinem Militärdienst Krankenpfleger werden möchte. Aber seit zwei Monaten wird seine Einheit in der Steppe nördlich von Tikrit fast jede Nacht angegriffen. Vor zwei Tagen entging eine Patrouille knapp dem Tod, als ein Panzerfaustgeschoss zwischen zwei Humvee-Geländewagen hindurchzischte. Nelsons Nerven liegen seither blank.
"Sie lächeln immer noch. Und winken. Wie damals, im April", als er in den Irak kam und glaubte, ein paar Wochen später wieder zu Hause zu sein. "Aber wenn du ihnen jetzt den Rücken zuwendest, weißt du nicht, wer lächelt und wer auf dich schießt", sagt Nelson. Schleichend verwandelt sich das Land für die Amerikaner in einen Abgrund. "Erst haben sie angefangen, unsere Konvois zu beschießen, also flogen wir mehr Helikopter-Missionen. Und jetzt schießen sie die jede Woche ab."
Allein am vergangenen Wochenende kamen 17 Soldaten beim Absturz zweier Hubschrauber nahe Mossul ums Leben. Einer der Black Hawks sei unter Beschuss ausgewichen und habe den zweiten gerammt, berichteten GIs. Beim Abschuss eines Black Hawks am 7. November bei Tikrit starben sechs Militärs, fünf Tage zuvor kamen 16 um, als eine Maschine des Typs Chinook bei Falluja Ziel eines Raketenangriffs wurde.
Fatale Erinnerungen
Für die Besatzungsmacht im Irak vergeht kein Tag mehr ohne Horrormeldung, im November starben bereits 61 US-Soldaten. Die Moral der Truppen ist auf einem Tiefpunkt, und die Bilder der brennenden Hubschrauberwracks wecken fatale Erinnerungen. In den USA hält das V-Wort Einzug in die Debatten - V wie Vietnam, die nie verwundene Schmach. Selbst am Veteran‘s Day, dem nationalen Gedenktag für die Gefallenen, holt die Supermacht ihr großes Trauma ein. Während Helikopter in der Häuserschlucht der Fifth Avenue von Manhattan über den langen Zug der Kriegsveteranen donnern, macht eine Gruppe älterer Männer auf sich aufmerksam. Sie tragen Schilder mit Slogans wie "Bush lied, Thousands died", Bush log, Tausende starben. Sie singen "Hey, hey Uncle Sam, please remember Vietnam". Einige Zuschauer am Straßenrand applaudieren, andere schütteln den Kopf. Ein junger Mann senkt den Daumen und brüllt: "Verräter, Kommunisten, Arschlöcher!" Ein Demonstrant geht auf ihn zu. "Begreifst du denn nicht? Ich habe das alles schon mal erlebt", sagt Bill Steyert, 59 Jahre. Er ist Vietnamveteran.
Fünf Millionen Tote
Die Eskalation in Indochina
1954
Vietnam wird auf der Genfer Indochina-Konferenz geteilt in den kommunistischen Norden, Hauptstadt Hanoi, und den kapitalistischen Süden, Hauptstadt Saigon. Nach neun Jahren Krieg zieht Frankreich geschlagen ab
1961
US-Präsident John F. Kennedy schickt Militärberater nach Südvietnam
1963
Buddhisten protestieren mit Selbstverbrennungen gegen das Saigoner Regime
1964
Im Golf von Tonkin wird angeblich ein US-Kriegsschiff beschossen
1965
Die USA beginnen im Februar mit der Bombardierung Nordvietnams, 200 000 US-Soldaten sind in Südvietnam stationiert
1968
Nordvietnam startet die Tet-Offensive. Guerillaeinheiten nehmen zeitweise Teile von Saigon ein. Das Massaker von My Lai erschüttert die Welt. US-Soldaten hatten 504 Bewohner des Dorfes erschossen, unter ihnen 250 Kinder und Babys. Proteste gegen den Krieg nehmen zu. Nixon gewinnt die Präsidentenwahl, er verspricht, den Konflikt zu "vietnamisieren"
1970
US-Truppen marschieren in Kambodscha ein, um den kommunistischen Vietcong den Nachschub abzuschneiden. Ein Jahr später wird Laos bombardiert
1972
Nixon befiehlt Bombardierung Hanois. Das Bild von Napalm-Opfern geht um die Welt
1973
Nach fast fünfjährigen Verhandlungen unterzeichnet Südvietnam ein Waffenstillstandsabkommen mit dem Norden. Die USA ziehen alle Kampftruppen ab. Die Kämpfe zwischen Nord- und Südvietnamesen gehen weiter
1975
Südvietnam kapituliert. Die letzten Amerikaner flüchten per Helikopter vom Dach der Botschaft. Fünf Millionen Tote sind die erschütternde Bilanz des Krieges
Die Zeitungen stellen bereits Vergleiche an zwischen damals und heute. Zwischen der Golf-von-Tonkin-Lüge 1964, als US-Zerstörer angeblich von Nordvietnam angegriffen wurden, und jener modernen von der "ernsthaften Bedrohung durch den Irak" mit angeblichen Massenvernichtungswaffen. Ausgerechnet John McCain, George W. Bushs republikanischer Präsidentschaftskonkurrent bei den vergangenen Wahlen, befeuerte die Debatte. "Es ist das erste Mal", sagte er, "dass ich Parallelen zu Vietnam sehe. Und zwar vor allem in der Art und Weise, wie die Regierung Informationen herausgibt, die der tatsächlichen Situationen im Irak nicht entsprechen."
Zuvor hatten lediglich die politischen Gegner den historischen Vergleich bemüht. Der demokratische Senator Tom Harkin aus Iowa, der über den Irak sagte: "Es mag nicht Vietnam sein, aber es stinkt verdammt danach." Daniel Ellsberg, der mit den Pentagon-Papieren einst das ganze Ausmaß der Lügen über den Indochina-Krieg enthüllte und über den Irak urteilte: "Eine stecken gebliebene, hoffnungslose Besatzung - das ist Vietnam sehr ähnlich." Oder John Kerry, Präsidentschaftskandidat und Vietnamveteran, den die Töne von Weißem Haus und Militärs "an die Licht-am-Ende-des-Tunnels-Sprache während Vietnam" erinnerten.
Auch Colonel David Teeples bedient sich des bewährten Musters, um seine Leute aufzurichten. Die Männer und Frauen seines Regiments sind bei Bagdad angetreten vor der improvisierten Trauerbühne aus zwei Lkw-Anhängern, um von den 16 Soldaten Abschied zu nehmen, deren Chinook bei Falluja abgeschossen wurde. Vor den aufgereihten Stiefeln stehen ihre Sturmgewehre, an den Magazinen baumeln die polierten Dienstmarken, auf den Mündungen die Helme.
Die Attacken werden raffinierter
Die Kapelle spielt "Amazing Grace", Teeples spricht vom "Wertvollsten, was unser Land zu geben hat: unsere Söhne und Töchter. Sie haben in Freiheit gelebt, für die Freiheit sind sie gestorben. Erinnert euch!" Drei Schüsse roter Leuchtmunition irrlichtern durch die Nacht. Kurz scheint die Kriegsbemalung zweier Black-Hawk-Hubschrauber auf, die mit grimmigen Haifischmäulern vorüberziehen. Die Moral der Truppe, sagt Colonel Teeples, "wird durch die Angriffe nicht erschüttert. Ohnehin werden die Angreifer zusehends verzweifelter." So wie bereits im Mai ein Major in Bagdad versicherte: "Das sind nur versprengte Kriminelle, das hat bald ein Ende." Und im Juni Colonel James Hickey in Saddams Geburtsort Ouja erklärte, dass die Waffen der Attentäter zur Neige gingen und alles schnell vorbei sein werde. Und im Juli Colonel Steve Russel in Tikrit betonte, die US-Truppen entdeckten ein Waffendepot nach dem anderen und das Ende der Anschläge nahe. Und im Oktober General Martin E. Dempsey in Bagdad erzählte, dass der Zusammenbruch der Terrorangriffe nur noch eine Frage der Zeit sei. Einen Tag später flogen Raketen ins Raschid-Hotel und verfehlten US-Vizeaußenminister Paul Wolfowitz nur knapp.
Tatsächlich werden die Attacken nicht verzweifelter, sondern raffinierter, die Waffen nicht dürftiger, sondern besser: Statt mit Kalaschnikows feuern die irakischen Widerständler mit Boden-Luft-Raketen, statt alter Panzerminen legen sie Sprengsätze mit Fernzündung, die sie aus der Infrarottechnik von Autoschlüsseln basteln.
"Unsere Ingenieure arbeiten jetzt an Raketen mit automatischer Zielerkennung für Hubschrauber, dann müssen wir gar nicht mehr persönlich angreifen - so wie beim Raschid-Hotel. Das waren wir auch!", brüstet sich ein Mann, der für "Farka La Allah ila Allah" Ziele auskundschaftet, die "Abteilung ,Es gibt nur einen Gott"". Eine Zelle von vielen. "Unsere Waffentechniker sind Spezialisten", beteuert er, "alles ehemalige Mitarbeiter jenes Rüstungsindustrieministeriums, das für die Entwicklung eigener Waffen, speziell Raketen, zuständig war." Überhaupt seien die meisten Untergrundkämpfer ehemalige Soldaten. Hatten nicht die Amerikaner selbst die Armee aufgelöst, die letzte noch halbwegs intakte Ordnungsmacht des Landes, und dadurch 400 000 arbeitslos gemacht, wütende Männer, die wissen, wie man schießt? "Aber wir sind keine Terro- risten, wir töten nur Amerikaner."
Sie warfen ihn zu Boden und traten ihn
In Falluja erzählt ein älterer Herr, wie aus der trostlosen Provinzstadt die Hauptstadt des Hasses wurde: "Wir sind anders hier. Wenn Ungläubige uns beherrschen wollen, werden sie Widerstand ernten. Wenn sie unsere Ehre verletzen, werden wir sie umbringen, auch wenn wir dabei sterben." Sicher, es gebe Anschläge von Saddams Anhängern. Und von religiösen Fanatikern. Am stärksten aber treibe die Rache Menschen in den Widerstand: "Es war im Juli an der großen Euphratbrücke mitten in der Stadt, und ich war dabei. Eine US-Patrouille hatte einen Checkpoint errichtet, und ein älteres Paar wollte über die Brücke. Der Mann trug den Eqal", jenen schwarzen Ring über dem Kopftuch, den die traditionellen, gläubigen Araber tragen. "Ein Soldat tastete erst den Mann ab. Als er sich der Frau näherte, stellte sich der Mann vor sie, dann schrie er, schubste den Soldaten beiseite. Andere GIs hielten ihn fest und durchsuchten die Frau. Beide schrien, weinten, und der Mann rief: ,Ich werde sterben für meine Ehre!", spuckte einem Soldaten ins Gesicht. Daraufhin rissen sie ihm den Eqal vom Kopf,.
Alle hatten es gesehen. Für die Amerikaner mag das nicht wichtig gewesen sein - aber für den Mann bedeutete das: Er muss sich rächen. Sonst ist er nichts mehr wert, sonst ist er tot. Jetzt ist er einer der Führer des Widerstands. Vorher war er Bauer." Während der Alte noch redet, gibt es plötzlich eine heftige Detonation. Zwei Straßen weiter ist ein Auto auf eine Mine am Straßenrand gefahren. Sie galt den Amerikanern, traf aber einen nun schwer verletzten Iraker, der einem Stau ausweichen wollte und auf den Seitenstreifen fuhr, was sonst zumeist die Patrouillen der US-Truppen tun.
Es war eine solche Mine, die vor vier Wochen Michael Williams tötete, Vater von vier Kindern aus Buffalo im US-Staat New York. "Es ist herzzerreißend", sagt der Bürgermeister der Industriestadt. Allein in einem einzigen Stadtteil hat er seit März vier Gefallene zu beklagen. "Dies ist eine patriotische Arbeitergegend. Buffalo hat viele Rückschläge hinnehmen müssen, aber nichts im Vergleich zu den Toten jetzt." Der bedingungslose Patriotismus während des Krieges ist hier einer Grundskepsis gewichen: Warum sterben so viele, jetzt, da der Krieg angeblich vorbei ist?
"Und dann bekommst du eine Standardurkunde"
Mitten im Armenviertel, an einer befahrenen Hauptstraße, führt ein dunkler Seitengang in eine eng geschnittene Wohnung. Hier wohnt die Sozialarbeiterin Esther Macklin, die zum Andenken an ihren gefallenen Sohn David eine Art Schrein im Wohnzimmer errichtet hat. Zwischen Bibelsprüchen und US-Flaggen stehen die vergrößerten Fotos ihres stolz lächelnden Sohnes in Uniform. An der Wand hängt eine Kondolenzurkunde von Präsident Bush mit gedruckter Unterschrift. "Nicht mal persönlich hat er unterschrieben", sagt Frau Macklin voller Verachtung. "Kein Anruf. Nichts. Sie schicken Kinder in einen unnötigen Krieg, und dann bekommst du eine Standardurkunde."
Militärpolizist David Evans war 18, als eine Explosion in Diwaniyah seinen Kopf vom Körper abtrennte. Der stets fröhliche schwarze Junge hatte wie viele Jugendliche die Armee als Chance gesehen, der Armut zu entfliehen. Überproportional viele der Gefallenen sind schwarz und entstammen der Unterschicht. Army Specialist Michael Williams, 46, arbeitete im Gefängnis von Buffalo und verpflichtete sich für den Dienst in der Nationalgarde, um ein zusätzliches Einkommen zu erhalten. Unter seiner Todesanzeige in den "Buffalo News" standen die Namen seiner vier Kinder, vier Enkelkinder, acht Brüder und Schwestern. Sie wirkte wie eine Mahnung an die Nachbarschaft. Und wie eine Anklage gegen das Land, das die Opfer des Krieges den Schwachen und Unterprivilegierten aufbürdet wie einst in Vietnam: den Schwarzen in den Ghettos.
Die Stimmung sei erst gar nicht so schlecht gewesen, erzählt Sergeant First Class Curtis Brittsan, 35, der mit dem 366. Armored Battalion seit April im Irak nördlich von Tikrit stationiert ist: "Wir haben uns um das große Kraftwerk hier und die Raffinerie gekümmert, das schätzten die Leute durchaus." Aber vor zwei Monaten sei das anders geworden. Erst hätte eine aufgebrachte Menge das Bürgermeisteramt niedergebrannt, und der Händler, der ihnen in der Gluthitze des Sommers Eis verkaufte, fand plötzlich Minen in seinem Kühlhaus. Und nun würden sie selbst regelmäßig beschossen. Trotzdem, sagt Brittsan, nehme er lieber an Razzien teil, als in seinem umzäunten Stück Wüste den Spinnen und Skorpionen zuzuschauen: "Passiert wenigstens mal was." Wie oft er ausgerückt ist, weil Saddam wieder angeblich irgendwo gesichtet wurde, kann er schon nicht mehr zählen. An dieser Tankstelle, vor jenem Haus, überall soll er sein.
Bomben auf Bagdad
Angriff ohne UN-Mandat. Bushs Kreuzzug gegen Saddam
2001
Nach den Anschlägen vom 11. September verbreitet die US-Regierung, nicht nur Osama bin Laden, sondern auch Saddam Hussein stecke hinter dem Terror
29. Januar 2002
US-Präsident Bush bezeichnet den Irak, den Iran und Nordkorea als "Achse des Bösen"
12. September 2002
Bush wirbt vor den UN um Unterstützung im Kampf gegen den Irak
Februar 2003
Die USA versuchen vergebens, im Weltsicherheitsrat ein Votum für einen Irak-Krieg zu bekommen
20. März 2003
Mit der Bombardierung Bagdads beginnt der Irak-Krieg
8. April 2003
US-Truppen rücken in Bagdad ein. Die ersten Saddam-Hussein-Statuen werden gestürzt
1. Mai 2003
US-Präsident Bush erklärt das Ende der Hauptkampfhandlungen
Elvis-Sichtungen
"Elvis-Sichtungen" haben die Soldaten die ständigen Saddam-Alarmmeldungen getauft, "denn von Elvis wird ja auch ständig behauptet, irgendjemand habe ihn irgendwo leibhaftig gesehen". Specialist Ryan Erickson lächelt gequält. Die letzte Attacke auf ihn liegt jetzt gerade mal zwei Tage zurück. Er saß als MG-Schütze auf einem Lastwagen. Eine Mörsergranate flog knapp an ihm vorbei. Und es war nicht das erste Mal: "Granaten, Heckenschützen, Minen, es war alles schon dabei." Seiner Frau erzählt er am Telefon nichts von den Angriffen. Sondern freut sich lieber, dass sie jetzt eine Webkamera hat und er sie im Internetcafé des Camps wenigstens auf dem Bildschirm sehen kann.
Eine Woche bevor er in den Irak musste, haben sie geheiratet, in Deutschland, wo seine Frau auch heute noch lebt. Dass sie mit einem US-Soldaten verheiratet ist, wissen nur die engsten Freunde. "Sie selbst war auch gegen diesen Krieg. Aber wir haben versucht, nicht darüber zu diskutieren. Sie sagte: Du machst, was du für richtig hältst, und ich tue, was ich für richtig halte." Ob das, was er hier tut, richtig sei, fragt Ryan Erickson nicht. Es ist sein Job, sagt er. Auch sein Bruder ist als Soldat im Irak, "aber ich weiß gar nicht, wo". Sie stammen aus einer Army-Familie. Der Vater war als Pilot drei Jahre in Vietnam. Aber er sagt, mit dem, was die Amerikaner dort erlebten, sei der Irak überhaupt nicht zu vergleichen.
In Vietnam kamen 58 235 Amerikaner ums Leben, zehn pro Tag. Im Irak starben bislang 419 amerikanische Soldaten (siehe Infografik Seite 40). Im Irak gibt es kein Rückzugsgebiet für Saddam-Anhänger wie es die Vietcong in Nordvietnam hatten. Keine Sowjetunion, die die Aufständischen mit Waffen versorgt. Keinen Kalten Krieg, der als ideologischer Hintergrund diente.
Das Menetekel eines endlosen und zermürbenden Krieges
Und dennoch schwebt das Menetekel eines endlosen und zermürbenden Kriegs gegen fanatische Guerillatruppen drohend über dem Nahost-Einsatz. "Das Vietnam-Syndrom", sagt Senator McCain, "hat unser Nationalbewusstsein weiter im Griff." Zwar finden immer noch 60 Prozent der US-Bürger, dass die Irak-Invasion richtig war. Immer noch halten 52 Prozent die Amtsführung des Präsidenten für gut. Aber erstmals sagt die Mehrheit, dass die Regierung Bush in der Irak-Frage einen miesen Job macht.
Amerika ist gespalten, so wie es auch über den Vietnamkrieg gespalten war. Auch damals gab es keine Ausstiegsstrategie. Auch damals unterschätzte die Regierung den Feind. Und die Begriffe ähneln einander auf fatale Weise. Damals warnte Präsident Lyndon B. Johnson: "Wenn wir Vietnam verlassen, kämpfen wir morgen in Hawaii und nächste Woche in San Francisco." Heute warnt Präsident George W. Bush: "Wir bekämpfen den Feind im Irak und in Afghanistan, damit wir ihm nicht in unseren Straßen und Städten begegnen." Verbissen verteidigt er seine Strategie. Ein Scheitern im Irak wäre ein Gesichtsverlust, der das Ansehen und das Selbstbewusstsein der inzwischen zur alleinigen Hypermacht aufgestiegenen Nation noch nachhaltiger erschüttern würde als das Debakel in Vietnam.
Keine einzige Trauerfeier für Gefallene hat George W. Bush bislang besucht. Die Verwundeten werden nachts nach Washington geflogen, damit die Bilder der Soldaten nicht im Fernsehen laufen. In Lokalzeitungen erscheinen Formbriefe von GIs, die darin beteuern, wie gut doch in Wahrheit die Lage sei und wie sehr die Iraker sie begrüßten. Doch die US-Militärzeitung "Stars and Stripes" veröffentlichte im vergangenen Monat eine Umfrage unter 2000 in Kuwait und Irak stationierten Soldaten. Knapp die Hälfte der Befragten erklärte, dass die Stimmung "schlecht bis sehr schlecht" sei.
Und plötzlich bietet die US-Regierung an, was sie monatelang strikt verweigerte: die Machtübergabe an die Iraker. Als es Ende vergangener Woche daran ging, einen Fahrplan dafür festzulegen, waren es nicht die Iraker, die auf mehr Unabhängigkeit drangen, es war US-Statthalter Paul Bremer. Er drohte dem von der US-Verwaltung eingesetzten Regierungsrat: Entweder einige man sich jetzt auf die Termine, in den ersten Monaten des kommenden Jahres ein Parlament aus 250 Abgeordneten zu bilden und etwa zwei Jahre später Wahlen abzuhalten, oder er werde den Raum verlassen und verkünden, er habe den Irakern die Unabhängigkeit angeboten, aber sie hätten sie gar nicht gewollt.
Künftig, das ist Teil des Plans, den Bremer aus Washington mitbrachte, sollen die Polizei und neue Milizen, in 14 Tagen ausgebildet, das Land sichern. Mehr als 100 000 Iraker seien rekrutiert, meldet Peter Pace, Vizechef des Generalstabs, bis Jahresende sollen es 200 000 sein. Dann wollen die USA ihre Besatzungsarmee von 130 000 auf 105 000 reduzieren.
Die Wochenendkrieger kommen
Denn den Amerikanern gehen die Leute aus. Große Teile der Truppen kehren demnächst in die Heimat zurück, viele nach mehrfach verlängertem Einsatz. Die Türkei, die bis zu 10 000 Soldaten entsenden wollte, hat abgesagt. Japan, das zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg Truppen in einem fremden Land einsetzen wollte, hat die Aktion ganz gestoppt, Südkorea das zugesagte Kontingent auf 3000 Soldaten gekürzt. Ersetzen muss Washington seine ausgepowerten GIs durch Reservisten und Freiwillige der Nationalgarde, in den USA Wochenendkrieger genannt: Zahnärzte, Bauern, Ingenieure, Studenten. Oder Hausmeister.
So wie Dan Henry. Er gehört der Nationalgarde Minnesotas an. Seine 21-jährigen Zwillingstöchter Amy und Amanda hatten sich ebenfalls verpflichtet, um ihre Eltern finanziell zu entlasten. Als Nationalgardisten werden ihnen 80 Prozent der Studiengebühren erstattet. Nie hatten sie damit gerechnet, im Irak zu landen. Doch nun ist Dans Frau Mary die Amerikanerin mit den meisten Familienangehörigen im Irak. Auch ihre Schwiegersöhne in spe, Steve und Pete, wurden in das Camp Anaconda zirka 70 Kilometer nordwestlich von Bagdad entsandt. Und dann kam Jessica, ihre 18-jährige Tochter und sagte: "Mama, ich werde mich verpflichten." "Weißt du, was das heißt?", sagte Frau Henry. "Sie schicken dich in den Irak. Wer bleibt mir dann noch?" Sie habe sich so unpatriotisch dabei gefühlt, entschuldigt sich die Mutter, aber ihre Tochter sei doch noch nicht reif für einen Krieg. Jessica wird sich trotzdem zum Dienst melden. Ihre Mutter tröstet sich mit den Floskeln der offiziellen Politik: "Man muss auf den Präsidenten hören."
Bush will im Irak noch immer Saddam Hussein fassen und Osama bin Laden besiegen. Er will Krieg gegen den Terror führen. Er kann ihn haben, scheint die Botschaft der militanten Sektierer zu lauten. Eine ganze Schar von Mohammed Attas scheint auf dem Weg zu sein: 5000 ausländische Dschihadisten vermuten US-Regierungsexperten im Land, irakische Ermittler schätzen ihre Zahl doppelt so hoch.
Im Dschihad-Ranking ist der Irak ganz oben
Vom Iran aus, von Syrien, Saudi-Arabien sickern sie ein, lagern wie Nomaden in der westlichen Wüste oder finden Unterschlupf in kleinen Städten wie Falluja oder Ramadi - jenen Orten, die zu Todeszonen für die US-Truppen geworden sind. Sie sind es, die höchstwahrscheinlich hinter all den Selbstmordanschlägen der letzten Zeit stecken: erst die beiden Attentate auf das UN-Hauptquartier, dann im August jenes auf Schiitenführer Hakim, nun die Anschlagswelle auf die Polizei in Bagdad und Falluja, zuletzt am vergangenen Mittwoch auf das Hauptquartier der italienischen Carabinieri in Nasiriya. Selbstmordattentäter rasen mit sprengstoffbepackten Lieferwagen direkt in die Gebäude. Bagdad erlebte zu Beginn des Fastenmonats Ramadan fünf Anschläge innerhalb von 45 Minuten. Der Irak ist zum neuen Zentrum der nihilistischen Glaubenskämpfer geworden, hat im Dschihad-Ranking Tschetschenien und Kaschmir überholt.
Ein Mann, der gerade von einer Pilgerstätte kommt, erzählt: Draußen, in der Steppe am Stadtrand, gebe es ein heiliges Haus, wo ein verwundeter Kämpfer gestorben sei. Und Gott habe ein Zeichen seiner Freude gesandt: Der blutgetränkte Sand jener Stelle, wo der Märtyrer sein irdisches Dasein gegen das Paradies getauscht habe, dufte nun nach Ambra! Er hat ein kleines Plastikbeutelchen des Sandes dabei, und tatsächlich riecht er: nach Toilettendeodorant. Er sagt nicht, dass er zu al Qaeda gehöre. Sie bräuchten keine Führung: "Unsere Befehle kommen direkt von Gott!" Und die Amerikaner, so predigen ihre Führer wie der festgenommene Scheich al-Nazal, "sind die Feinde Gottes!"
Es ist keine geeinte Front, der sich die USA gegenüber sehen. Dauernd entstehen neue Gruppen, selbst ernannte Armeen und Terrorzellen. Die Islamisten wollen einen Gottesstaat herbeibomben. Saddams ergebenste Schergen kämpfen für die Rückkehr des alten Regimes. "Neo Baath", radikale Nationalisten, hassen Amerikaner und Saddam gleichermaßen, gehen aber nicht auf ihre irakischen Rivalen los, sondern nur auf Ausländer. Die Amerikaner haben von Anfang an nicht verstanden, was Saddam wohl klar war: Nichts mobilisiert die Iraker so wie der Widerstand gegen eine Besatzungsmacht. Für des Diktators morsches Regime mochten sie nicht mehr kämpfen, gingen ganze Armeen einfach nach Hause - gegen die fremden Truppen im Land sind viele bereit zu sterben.
Saddam lebt in den Köpfen fort
Aus seinen Palästen mag Saddam verschwunden sein, von der Macht und den überlebensgroßen Bildtafeln. Aber in den Köpfen lebt er fort, im Geraune von der amerikanisch-zionistischen Freimaurerverschwörung hinter dem Krieg, das wie ein Virus im Land grassiert. All die grotesken Gerüchte, Amerikaner würden irakische Frauen entführen und vergewaltigen, würden zu Tausenden desertieren und nach Syrien fliehen, würden ihre riesigen Verluste verheimlichen, indem sie die Leichen in Schluchten und Flüssen entsorgten - späte Früchte von Saddams Wahn. Aber es funktioniert, heizt die Rebellion an.
Der irakische Exilschriftsteller Khalid Al-Qashtini schrieb vor Tagen seine Ratlosigkeit in grimmigem Sarkasmus nieder: "Wir Sunniten haben den Irak in den letzten sechs Jahrzehnten völlig ruiniert. Die Schiiten haben 1300 Jahre lang nicht regiert, jetzt verdienen sie ihre Chance. Doch sie sind schon dabei, viel schlimmer zu werden als die Sunniten, bringen sich alle gegenseitig um. Aber wer soll das Land regieren: die Christen? Wollen nicht. Die Juden? Es sind nur noch 20 im Land, das reicht nicht mal für einen Regierungsrat, denn der allein hat 25 Mitglieder. Also wer?"
Ein brandgefährlicher Gegner: Muqtada as-Sadr
Noch verhalten sich die ungefähr 15 Millionen Schiiten Iraks ruhig. Ihre Führer predigen meist Ruhe und kooperieren vorsichtig mit den Besatzern - im Wissen darum, dass eine Demokratie sie automatisch zu den neuen Herren im Lande machen würde. Doch unter ihnen erwächst den USA gerade ein brandgefährlicher Gegner: Muqtada as-Sadr, nicht einmal 30-jähriger Sohn des hoch verehrten und von Saddams Geheimdiensten samt der halben Familie umgebrachten Ayatollahs Sadeq as-Sadr. Er sammelt die Radikalen unter den Schiiten, die Arbeitslosen, die Jugend in Bagdads Zwei-Millionen-Slum, das früher "Saddam City" hieß und mittlerweile offiziell "Sadr-City" genannt wird. Er predigt Hass, hetzt auf, und wer sich mit ihm anlegt, lebt gefährlich. Seine "Armee des Messias" hat sich in den vergangenen Wochen Feuergefechte mit anderen Milizen in Bagdad und der heiligen Stadt Kerbala geliefert. Wenn die US-Truppen ihn gefangen nähmen, hätte er sein Ziel erreicht: als Märtyrer jenen Ruhm zu erwerben, der ihm sonst mangels Rang, Alter und Ansehen verwehrt bliebe. Gelänge es Muqtada as-Sadr, die Schiiten zum Widerstand zu bewegen, dann hätten die Amerikaner im Irak verloren.
Aber es wäre nicht wie in Vietnam. Sondern viel schlimmer. In Indochina bedeutete der Abzug der US-Truppen letztlich das Ende des Krieges. Im Irak begänne mit ihm der wahre Alptraum.