Ein Jahr nach dem Tod von Jina Mahsa Amini gehen weniger Menschen im Iran für Frauenrechte auf die Straßen. Die meisten treiben jetzt wirtschaftliche Sorgen um, viele kommen kaum noch über die Runden, denn: "Die Preise steigen täglich".
"Ich glaube, dass wirtschaftliche Fragen jetzt viel wichtiger sind als das Kopftuch-Thema", sagt Sarah. So wie die 41-jährige Hausfrau denken viele Iranerinnen ein Jahr nach dem Tod von Mahsa Amini, der im ganzen Land Proteste auslöste. Die hohe Inflation und die Wirtschaftskrise haben die Debatte um die strengen Kleidervorschriften in den Hintergrund gedrängt. Viele Iraner kämpfen ums Überleben.
"Ich selbst habe kein Problem mit dem Kopftuch, aber ich wäre glücklicher, wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen verbessern würden", sagt Sahra. Wie andere von der Nachrichtenagentur AFP befragte Frauen möchte sie ihren Nachnamen aus Furcht vor Repressalien nicht nennen.
Die 22-jährige Kurdin Amini starb am 16. September 2022 in Polizeigewahrsam. Sie war verhaftet worden, weil sie angeblich gegen die strenge Kleiderordnung der Islamischen Republik verstoßen hatte, die Frauen vorschreibt, Kopf und Hals zu bedecken.
Nach Aminis Tod gingen die Iraner in Massen monatelang unter dem Motto "Frau, Leben, Freiheit" auf die Straße. Es war eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte des Landes. Mehrere hundert Menschen wurden getötet, tausende verhaftet.
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Trotz der Bemühungen der Regierung, die Kleiderordnung strenger zu kontrollieren, ignorieren Frauen im Iran, insbesondere in der Hauptstadt Teheran, zunehmend die Kopftuchpflicht. Doch angesichts einer Inflation von 50 Prozent glauben viele, dass die Wirtschaft derzeit das größere Problem sei.
Das Kopftuch "ist eine völlig zweitrangige und persönliche Angelegenheit", sagt Raha, eine 34 Jahre alte Buchhalterin. Viel wichtiger sei, die Lebensumstände zu verbessern.
Beobachtern zufolge befeuern die wirtschaftlichen Missstände die Unzufriedenheit der Bevölkerung seit den Protesten im vergangenen Jahr weiter. Der seit zwei Jahren amtierende Präsident Ebrahim Raisi macht "den Feind" für die Krise verantwortlich. Er versprach, die angeschlagene Wirtschaft des Landes zu sanieren, die Inflation einzudämmen und "die Armen zu stärken".
Seit dem einseitigen Ausstieg Washingtons aus dem bahnbrechenden Atomabkommen 2018 leidet der Iran unter den US-Sanktionen. Die Landeswährung Rial verlor gegenüber dem Dollar rund 66 Prozent an Wert.
Die Anwältin Mahtab gibt der Regierung mit ihrer "falschen Wirtschaftspolitik" die Schuld an der Misere. "Ich spüre den drei- bis vierfachen wirtschaftlichen Druck im Vergleich zum letzten Jahr", sagt die 41-Jährige.
"Wir schauen der Gewalt täglich ins Gesicht" – acht Frauen über ihren Kampf gegen Unterdrückung
Sahar*, 41, Iran
"Nach dem Tod von Jina Mahsa Amini haben die Frauen ihre Stimme erhoben. Frauen stehen jetzt in der ersten Reihe und fordern ihre Grundrechte. Die Bewegung konzentriert sich auf das Bedürfnis nach Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Es ist eine Bewegung, die aus einem sozialen Bewusstsein heraus entstanden ist, die Iranerinnen und Iraner unterstützen sich gegenseitig. Die Machthaber verhaften jetzt Demonstranten zur Abschreckung. Sie wollen unseren Familien und Freunden Angst machen. Aber solange ich nicht die Rechte habe, die ich mir wünsche, macht es für mich keinen Unterschied, ob ich innerhalb oder außerhalb eines Gefängnisses lebe. Ich denke nicht, dass wir die Proteste als Revolution bezeichnen können. Obwohl wir Demonstranten die gleichen Ziele verfolgen, haben wir unterschiedliche Ansichten über den Weg zur Demokratie. Seit der Islamischen Revolution von 1979 haben die Menschen im Iran lernen müssen, dass das Engagement in politischen Parteien ihre Träume nicht erfüllt. Alle sozialen Bewegungen, wie friedlich sie auch sein mochten, wurden behindert. Die jüngsten Proteste machen deutlich, wie viele soziale Probleme es gibt. Die Ziele der Frauenbewegung sind inzwischen tief in der Gesellschaft verankert. Das ist bereits ein Sieg."
*Sahars Nachname soll aus Sicherheitsgründen ungenannt bleiben
Im Labyrinth der Gassen des Großen Basars in Teheran herrscht wie eh und je viel Betrieb, Frauen mit und ohne Kopftuch schlendern durch die Gänge. Die Stände sind voll mit farbenfrohen Waren. Doch die Stimmung unter den Händlern ist miserabel.
"Der Basar ist überfüllt, aber viele Leute kommen nur, um sich abzulenken statt einzukaufen", klagt Mehdi, der mit Haushaltswaren handelt. "Viele Menschen können sich die Waren, die sie brauchen, nicht mehr leisten."
"Die wirtschaftliche Lage ist schlimmer als im letzten Jahr, und sie wird noch schlimmer werden", prophezeit Mohsen, Verkäufer für Herrenbekleidung. "Die Preise steigen täglich. Die Leute müssen sehen, wie sie als erstes ihre Wohnung und ihr Essen bezahlen."
Importierte Produkte sind zum Luxus geworden, der nur noch für wenige erschwinglich ist. "Die meisten Waren auf dem Basar wie Töpfe, Löffel und Gabeln werden inzwischen im Inland hergestellt", sagt Mohammed, der in einem anderen Haushaltswarenladen arbeitet.
Verstummt ist die Debatte um das Kopftuch jedoch nicht. Das Parlament diskutiert einen Gesetzentwurf, der harte Strafen für Frauen vorsieht, die gegen die Kleidervorschriften verstoßen. "Dieser Gesetzentwurf gefällt einigen, aber nicht der breiten Bevölkerung", urteilt Fatemeh, eine 43-jährige Hausfrau.
Buchhalterin Raha fordert, dass die Politiker klare Prioritäten setzen: "Zuerst müssen sie das wirtschaftliche Problem angehen, dann können sie sich nach und nach um die gesellschaftlichen Fragen kümmern."