An der Daneshgah, der Universitätsstraße im Zentrum von Maschad, ist die Welt der Mullahs offenbar noch in Ordnung. An der Bushaltestelle herrscht Geschlechtertrennung: In der einen Schlange stehen die Frauen, schwarz verhüllt, in der anderen die Männer.
Doch nur ein paar Meter entfernt wurde unlängst an einem Freitagmorgen eine tote Frau entdeckt. Sie war nackt, jemand hatte sie mit ihrem Kopftuch erdrosselt. Damit nicht genug: In der heiligen Stadt Maschad, nach Mekka das zweitgrößte Pilgerzentrum des Islam, fand man in den vergangenen Wochen und Monaten elf weitere Frauenleichen – immer an einem Freitag, dem islamischen Sonntag.
Über die bestialische Mordserie spricht man derzeit in Iran nur hinter vorgehaltener Hand, hin und wieder bringen Zeitungen kurze Meldungen. Unsere Begleiterin, die couragierte TV-Moderatorin Melody Rastegar aus Teheran, hat die Berichte gelesen. »Alle Opfer waren Prostituierte«, sagt sie. Vom Täter fehle jede Spur. Er habe die Frauen weder missbraucht noch beraubt, die Leichen stets in ihren Tschador, das fußlange Gewand der Frauen, gewickelt und sie dann in verschiedenen Vierteln der 1,5-Millionen-Stadt Maschad deponiert – immer an belebten Straßen.
Prostitution ist das Tabuthema Nummer eins im frommen »Gottesstaat«. »Wenn ihr dem Fall in Maschad nachgeht, war das eure letzte Reise in unser Land«, hatte in Teheran ein bekannter Chefredakteur getönt. Angst und vorauseilender Gehorsam beherrschen die Medienszene. 40 Zeitungen wurden in den vergangenen Monaten auf Befehl der konservativen Richter um Revolutionsführer Ali Khamenei dichtgemacht.
»Die umgebrachten Frauen waren Kriegswitwen«, sagt ein junger Schnösel in einem Schreibwarenladen. »Nein, es waren Studentinnen, die auf den Strich gingen«, behauptet der bärtige Fahrer eines klapprigen Taxis und setzt eine Geschieht-ihnen-ganz-recht-Miene auf. Beides stimmt nicht, wenn es nach Alireza Davanlou geht, dem Redakteur des Maschader Lokalblatts »Khorasan«. Er recherchiert die Verbrechensserie seit ihrem Beginn am 28. Juli vorigen Jahres, seine Berichte erreichten auch die Hauptstadt Teheran. Die Opfer, hat er herausgefunden, sind ausnahmslos »vorbestrafte Huren im Alter zwischen 27 und 50 Jahren«.
Dass solche Informationen, aller Gängelei der Ayatollahs zum Trotz, in iranischen Zeitungen geschrieben werden dürfen, kommt fast einem Umsturz gleich. Wird damit doch öffentlich eingestanden, dass auch unter den Mullahs, wo der Tschador die Frauen angeblich so vortrefflich vor männlichen Begierden schützt, die Prostitution floriert – mit den üblichen Begleiterscheinungen. So sank laut einer Studie des Teheraner Stadtrats das Durchschnittsalter der Prostituierten in der Hauptstadt von 27 auf 20 Jahre.
»Unter uns Frauen in Maschad geht die Angst um«, sagt mit leiser, aber fester Stimme eine Dame in Schwarz, die ihren Namen nicht nennen möchte. Plötzlich stand sie in der Tür eines kahlen Besprechungszimmers, in das uns ein paar Männer gebeten hatten, um über die Prostituiertenmorde zu reden. 48 Stunden zuvor war in Maschad erneut eine Frau tot aufgefunden werde. Ihr Name: Zahra Y., 35 Jahre alt. Zur Tatzeit trug sie einen langen grünen Mantel und das schwarze Maghnae, die bis zur Brust reichende Kopfbedeckung der Iranerinnen. Wieder wurde das Opfer erdrosselt. Wieder geschah der Mord an einem Freitagmorgen. Wieder war die Tote eine Prostituierte. Und wieder eine Rauschgiftsüchtige.
Zunächst waren die Männer froh, uns Ausländern eine solch kompetente Gesprächspartnerin präsentieren zu können, doch als die Frau mit dem bleichen Teint richtig loslegt, wird ihnen mulmig. »Wir haben es hier mit politisch motivierten Morden zu tun«, sagt sie, »mit religiösen Fanatikern, die jetzt vor den Wahlen am 8. Juni bewusst Unruhe schüren.« Gerade jetzt, da die Wiederwahl von Präsident Mohammed Khatami ansteht. Jenes bei der Mehrheit des Volkes sehr beliebten Mannes, der in Tränen ausbrach, als er bei der Bekanntgabe seiner erneuten Kandidatur vom »hohen Preis« sprach, den die Anhänger seines demokratischen Reformkurses zahlen müssen – Hunderte, darunter viele Frauen, sitzen im Gefängnis; alles, was angeblich gegen den Islam verstößt, wird drakonisch bestraft.
Sie sei Ärztin, sagt die gewandte Rednerin. Beim Sprechen hält sie sittsam mit dem Schal die untere Gesichtshälfte bedeckt, damit man ihre Lippen nicht sieht. Es seien die gleichen dunklen Kräfte am Werk wie bei der spektakulären Mordserie vor gut zwei Jahren. Damals waren fünf oppositionelle Schriftsteller umgebracht worden – von einer Bande frommer Killer, die
nachweislich dem von den Ayatollahs kontrollierten Geheimdienst angehörten. »Weil die Autoren beliebt waren, brachten die Morde die Ultrareligiösen damals eher in Misskredit«, erklärt die Frau, »deshalb haben sich die Todesschwadronen jetzt gezielt Opfer von zweifelhaftem Ruf ausgesucht, um so verletzte religiöse Gefühle anzustacheln.«
Unmissverständlich benennt sie mögliche Täter: die radikalislamischen Milizen der »Ansar e Hisbollah« (Anhänger der Partei Gottes) sowie den Ex-Geheimdienstminister Ali Fallahian, der mit deutschem Haftbefehl gesucht wird als mutmaßlicher Drahtzieher der Berliner »Mykonos«-Morde im Jahr 1992 an iranisch-kurdischen Oppositionellen. Jetzt ist der Dunkelmann einer der neun Gegenkandidaten Khatamis.
Zu fürchten seien solche Hardliner schon, sagt die 42-Jährige, doch Khatamis Kampf für Recht und Ordnung müsse mit Besonnenheit geführt werden. Der Polizei traut sie durchaus zu, den oder die »Spinnenmörder« zu fassen, »aber wer weiß, was unsere Richter tun?« Im Iran ist die Justiz, ebenso wie das Militär und das Staatsfernsehen, fest in der Hand des religiösen Führers Khamenei. Dessen Justizchef, Ayatollah Mohammed Sharudi, kann missliebige Parlamentsbeschlüsse oder Ermittlungsresultate jederzeit in Grund und Boden verdammen.
»Ihr dürft euch nicht vorstellen, dass uns der Mut verlässt« – mit diesen Worten entschwindet die Khatami-Getreue. Melody, die das Gespräch übersetzt hat, zeigt sich beeindruckt. »Eine starke Person, ich mag solche Frauen«, trällert sie unter ihrem schwarzen Mantel mit den weißen Bordüren, den sie mitgebracht hat, um in der konservativen Pilgerstadt korrekt gekleidet zu sein. Eigentlich passt die klösterliche Kluft gar nicht zu ihr. Zu Hause in Teheran trägt sie schicke Kleider über Jeans, dazu ein
buntes Designerkopftuch, unter dem ihre dunkle Mähne hervorquillt. Die 25-Jährige geht schon mal in Schönheitssalons und am Wochenende zur Jordan Street, Teherans angesagter Flaniermeile, wo man von Auto zu Auto flirten kann. Das Anbändeln in der Öffentlichkeit ist streng verboten. Doch im Stau sind die Sittenwächter machtlos.
Melody – den Namen gab ihr der Vater, ein Pop-Musiker, der sein Land verließ, als die Mullahs 1979 an die Macht kamen und Imam Khomeini verkündete: »Im Islam gibt es keinen Spaß.« Die Tochter ging mit, zuerst nach London, dann nach Los Angeles, besuchte dort die High School, spielte Keyboard in einer Band, fuhr mit 17 im Porsche durch Beverly Hills. Es folgte der totale Schnitt, ein Kulturschock: 1995 flog sie in heim nach Teheran, weil sie unbedingt ihre Mutter wiedersehen wollte.
Bald nach der Rückkehr wurde Melody von Sittenwächtern aus dem Auto geholt und bekam 50 Peitschenhiebe, die tiefe Striemen auf ihrem Rücken hinterließen. Grund für die Tortur: Ihr Schleier saß nicht richtig, ihre Fingernägel waren lackiert. Nur langsam arrangierte sie sich mit der frauenverachtenden Verbotswelt. Heute moderiert sie Sendungen im Auslandsfernsehen Sahar TV, wo ewig Hickhack um die Kleiderordnung herrscht: »Einmal wurde jemand gefeuert, nur weil mein Mantel bei der Ansage nicht eindeutig die Knie bedeckte.«
Wie die meisten Frauen im Iran betont Melody, sie sei nicht unbedingt gegen die Verhüllungsgebote, der Schleier biete in mancher Hinsicht auch Schutz. Nein, das Problem liege allein beim anderen Geschlecht. »Mit ganz wenigen Ausnahmen hasse ich die iranischen Männer, das könnt ihr ruhig schreiben«, bricht es aus ihr heraus. Die dauernde Betatscherei in den
Sammeltaxis, die Gafferei der Passanten – die Angst, die Unsicherheit, die Belästigungen rauben ihr den Nerv. Ganz zu schweigen von den Sittenwächtern. »Diese Typen tun, was sie wollen, und du hast nicht mal die Chance, dich zu beklagen.«
Zählt Präsident Khatami auch zu den Unausstehlichen? Melody schüttelt den Kopf: »Vor vier Jahren habe ich ihn nur gewählt, weil all meine Freudinnen für ihn waren, doch inzwischen ist mir klar, dass er der einzige Politiker ist, der uns Frauen mehr Freiheiten bringen kann.«
Den Kampf um die Frauen hat die liberale Lichtgestalt des iranischen Klerus bereits 1997 gewonnen. Für seinen Erdrutschsieg waren vor allem die Wählerinnen, besonders die ganz jungen Frauen ausschlaggebend. In der »Gottesrepublik« darf man ab 16 wählen. 35 der 62 Millionen Iraner sind unter 20 – gerade sie profitieren von Khatamis Reformen. Unter den Ärzten beträgt der Frauenanteil 33, unter den Studenten über 50 Prozent. Und selbst im konservativen Maschad tun sich Dinge, die noch vor kurzem undenkbar waren: Mädchen radeln mit dem Mountainbike zur Schule.
Doch der moderne Iran ist ein janusköpfiger Staat. Die Macht haben – auch wenn ihre Krallen stumpfer werden – noch immer die Ewiggestrigen unter den 180 000 Mullahs, 1000 Ayatollahs und 15 Groß-Ayatollahs. Für sie ist der Tschador der »Schützenpanzer im Kampf gegen westliche Werte«. Was passiert denn, fragen wir einen bekannten Schriftsteller, wenn morgen 1000 Frauen ohne Kopftuch mitten durch Teheran marschieren? Die Antwort: »Niemand wagt das. Solch ein Aufstand würde blutig niedergeschlagen.«
Das Zentrum der Mullahs befindet sich nicht in Maschad, sondern in Ghom, dem Vatikan der schiitischen Muslime. Hier gibt es jede Menge Koran-Schulen – »Mullah-Fabriken«, wie so mancher Iraner spöttelt. In der 300000-Einwohner-Stadt geben eindeutig die Männer den Ton an, in der Regel hinter verschlossenen Türen. Allein reisende Frauen sind in den Hotels nicht willkommen. Einer der Groß-Ayatollahs in Ghom gewährt an einem Mittwochabend eine kurze Audienz. Naser Makarem-Shirazi, ein schlanker älterer Herr mit Silberbart lobt »die harte Arbeit und die vortrefflichen Philosophen in Deutschland« und erläutert, welchen Einschränkungen nach dem Koran die freie Meinungsäußerung unterliegt. Was sagt er zu den Prostituiertenmorden von Maschad? »Da geht es nicht um politische, sondern um rein private Dinge«, antwortet er schnell. Woher weiß er das? »Ich habe Informationen aus geheimen Untersuchungen«, sagt er.
Am Tag nach der Begegnung mit der Khatami-Anhängerin, die aus Angst anonym bleiben wollte, treffen wir in Maschad den Lokalredakteur Alireza Davanlou. »Ich habe fünf, sechs Artikel geschrieben, bis die nationalen Medien endlich die Geschichte aufgegriffen haben«, sagt der Kollege, der ebenfalls dem Khatami-Lager angehört. Mehr als er geschrieben habe, wisse er auch nicht – nur dass die Ermordeten alle »Lkw-Frauen« waren: Prostituierte, die Lastenwagenfahrer bedienten.
Melody will Maschad nicht verlassen, ohne vorher zum Mausoleum von Imam Reza zu gehen. Tränen strömen ihr über die Wangen, als sie das wichtigste schiitische Heiligtum des Iran betritt. Nach dem Beten sitzt sie noch stundenlang im prächtig gefliesten Vorhof. Ja, sagt sie, die Rückkehr in den Iran habe sie dem islamischen Glauben etwas näher gebracht: »Die Reise war schwer, aber nun fühle ich mich irgendwie erleichtert«.
Tilman Müller