Er ist 64 Jahre alt, verdient gerade einmal 3,96 Euro netto pro Stunde: "Wir leben nicht, wir überleben", sagt Aurelio Bocchi, der im norditalienischen Padua als Wachmann arbeitet und sich dort mit diesem Hungerlohn zufrieden geben muss. Hoffnung auf spürbar mehr Geld hat Bocchi nicht – als eines der letzten Länder in der EU hat Italien keinen gesetzlichen Mindestlohn und Regierungschefin Giorgia Meloni ist strikt gegen dessen Einführung.
Sobald er die monatliche Miete von 610 Euro bezahlt hat, bleiben ihm noch 260 Euro zum Leben, sagt Bocchi. "Ich gönne mir nichts, ich trinke nicht, ich rauche nicht und ich spare bei allem." Sein Traum wäre ein Motorrad, mit dem er um die Welt reisen kann – leisten kann er sich das nicht. Die Mitte-Links-Opposition will solchen Löhnen in Italien ein Ende setzen, sie fordert einen gesetzlichen Mindeststundenlohn von neun Euro pro Stunde. Deutschland hatte im Jahr 2015 einen Mindestlohn von 8,50 Euro bekommen, der inzwischen auf zwölf Euro gestiegen ist.
70 Prozent der Menschen in Italien wünschen sich einen Mindestlohn
Die italienische Opposition legte im Parlament einen Gesetzentwurf für ihre Forderung vor und löste dort hitzige Auseinandersetzungen aus. Insbesondere die ultrarechte Regierungschefin Meloni sieht den Mindestlohn nur als einen "Slogan, der Gefahr läuft, Probleme zu schaffen". Vergangenen Donnerstag brach die Meloni-Regierung eine Parlamentsdebatte kurzerhand ab und verschob die Abstimmung auf Oktober.
Dabei befürwortet Umfragen zufolge eine breite Mehrheit von 70 Prozent der Italienerinnen und Italienern die Einführung eines Mindestlohns. In der EU haben neben Italien nur Finnland, Schweden, Dänemark und Österreich keinen gesetzlichen Mindestlohn und lassen die Branchenlöhne ausschließlich von den Tarifpartnern aushandeln. In Italien liegen mehrere solcher Branchentariflöhne deutlich unter den von der Opposition angepeilten neun Euro. Beschäftigte im Tourismus bekommen 7,48 Euro pro Stunde, in der Gastronomie sind es 7,28 Euro pro Stunde, Reinigungskräfte müssen sich mit 6,52 Euro pro Stunde begnügen.
Nach Daten der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Italien das einzige europäische Land, in dem zwischen 1990 und 2020 die Reallöhne gesunken sind, nämlich um 2,9 Prozent. Das durchschnittliche Bruttojahresgehalt liegt mit 28.781 Euro unter dem EU-Durchschnitt. In Deutschland liegt es bei etwa 49.200 Euro.
Den Widerstand gegen einen Mindestlohn erklärt der Mailänder Soziologie-Professor David Benassi gegenüber AFP mit den in Italien allgegenwärtigen kleinen und mittelgroßen Unternehmen. Für sei die Flexibilität von Arbeit und Löhnen sehr wichtig. Auch seien Gewerkschaften in diesen Betrieben deutlich schwächer als in Großunternehmen der Industrie, wo die Tarifverträge ein angemessenes Gehalt garantieren.
Lohn muss ausreichen, "um ihm und seiner Familie ein freies und würdevolles Leben zu ermöglichen"
Simone Fana, Co-Autor des Buchs "Basta Salari de Fama" ("Schluss mit den Hungerlöhnen"), erklärt die Ablehnung der Regierung Meloni gegen den Mindestlohn damit, dass ihre Wählerbasis die Kleinstunternehmen sind, die Dank der geringen Arbeitskosten Gewinne erzielen.
Der mit 3,96 Euro pro Stunde abgespeiste Wachmann Aurelio Bocchi ist einer von mehr als drei Millionen Beschäftigten in Italien, die weniger als neun Euro pro Stunde bekommen. Bocchi reichte zwischenzeitlich in Mailand Klage gegen seinen Arbeitgeber ein. Dieser war bereits zuvor wegen verfassungswidriger Löhne verurteilt worden.
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Die italienische Verfassung sieht nämlich eigentlich vor, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf eine Vergütung hat, die "ausreicht, um ihm und seiner Familie ein freies und würdevolles Leben zu ermöglichen". Im Juli wurde Bocchi das Gehalt erhöht – allerdings lediglich um 28 Cent pro Stunde.
Hilfe von den Gewerkschaften können Arbeiter wie Bocchi kaum erwarten. Die Gewerkschaften fürchten, dass der Staat ihre Rechte beschneiden könnte, wenn sie für den Mindestlohn auf die Barrikaden gingen. Die Gewerkschaft CISL argumentiert so ähnlich wie das Arbeitgeberlager damals in Deutschland, wonach der gesetzliche Mindestlohn zu Entlassungen führen werde. Laut CSIL wäre Folge eines gesetzlichen Mindestlohns eine "exponenzielle Zunahme von Schwarzarbeit".