24 Stunden nach dem weltweit schwersten Grubenunglück der vergangenen 40 Jahre wissen viele Türken nicht, was ihnen mehr die Sprache verschlägt: die fast 300 Kumpel, die der Brand in Soma das Leben gekostet hat oder die lapidare wie hartherzige Bemerkung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, dass sowas eben immer wieder passiere. Unter wütenden Protesten musste der türkische Regierungschef sogar in einen Supermarkt flüchten. Nun macht ein Foto die Runde, dass zum Sinnbild des mitleidslosen Verhaltens der Regierung werden könnte.
Zu sehen ist ein Mann im Anzug, der wie ein Fußballer vorm Elfmeter zum Tritt ausholt. Vor ihm liegt ein Demonstrant auf dem Boden, offenbar niedergerungen von zwei Sicherheitskräften. Bei dem Treter handelt es sich um Yusuf Yerkel, einem engen Berater von Erdogan. "Er war ein militanter Linksradikaler und hat mich und den Ministerpräsidenten angegriffen und beleidigt. Soll ich da ruhig bleiben?", sagte Yerkel der Zeitung "Hürriyet". Berichten zufolge hatte der Demonstrant bei dem Grubenunfall Angehörige verloren und an den spontanen Protesten gegen die Regierung teilgenommen.
Ein Ministerpräsident, der arrogant ein schweres Unglück kleinredet, einer seiner Berater, der einen auf dem Boden liegenden Menschen eintritt - der Grubenunfall wird unerwartet zur ernsthaften Belastung für die Regierung Erdogans. Die blutige Niederschlagung der studentisch geprägten Gezi-Proteste hatten die mehrheitlich konservativen Türken achselzuckend hingenommen. Genau wie die staatliche Sperrung von Twitter und Youtube. Selbst die dokumentierten Korruptionsvorwürfe tropften an Erdogan ab – er beschuldigte kurzerhand finstere Mächte eines Komplotts. Doch nun scheint er es sich auch noch mit dem einfachen Volk zu verderben.
Der größte türkische Gewerkschaftsbund rief zu Streiks gegen die Männer in Ankara auf. Für sie handelt es sich bei dem Grubenbrand nicht um einen Unfall, sondern um "Mord am Arbeitsplatz". Die Empörung entzündete sich daran, dass die regierende AKP ihre schützende Hand über die Bergwerk-Gesellschaft Soma Kömür gehalten hatte, als es jüngst darum ging, dem Unternehmen die Kontrolle über den Kohleabbau zu entziehen. Kritiker werfen Soma Kömür vor, die Profite der Gruben auf Kosten der Sicherheit zu maximieren.
Erdogans Eklat vor laufenden Kameras
Der angeschlagene Erdogan agiert schon seit einigen Wochen äußerst unsouverän. Erst vor wenigen Tagen sorgte er für einen Eklat, als er auf einer Juristen-Festveranstaltung gegen den Regierungskritiker Metin Feyzioglu wetterte, dessen Rede mehrmals unterbrach und ihn der Lüge bezichtigte. Am Ende stand der Ministerpräsident verärgert auf und verließ den Saal in Ankara. Am 24. Mai wird der Premierminister in Köln sprechen und die türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) ahnt jetzt schon Übles: "Ich hoffe, dass er nichts sagt, was die Spaltung vorantreibt. Wir müssen vermeiden, dass sich die unversöhnliche Atmosphäre in der Türkei auf die türkische Gesellschaft in Deutschland überträgt", sagte der TGD-Vorsitzende Safter Çinar.