Libyen "Ich gab den Sternen die die Namen meiner Kinder"

Sie ist der Hölle Libyens entkommen und in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Die bulgarische Krankenschwester Sneschana Dimitrova berichtet über ihre langjährige Haft, über Folter, Verzweiflung – und über den Verrat von Mitgefangenen.

Sie waren fast neun Jahre lang von Ihrer Familie getrennt, Sie wurden gefoltert und dreimal zum Tode verurteilt. Wie hält man das aus, ohne verrückt zu werden?

Ich hatte einen Trick. Ich stellte mir vor, ich wäre abwesend, das Leben um mich herum beträfe mich nicht. Vielleicht haben Sie mich im Fernsehen gesehen, aber ich war trotzdem nicht da. Im Gerichtssaal habe ich sowieso nichts verstanden, denn wir hatten keine Dolmetscher. Das Arabische rauschte an mir vorbei. Als das erste Todesurteil gesprochen wurde, sind alle im Gerichtssaal aufgesprungen. Ich wusste nicht, was passiert war. Ich war ganz ruhig. Der palästinensische Arzt, der mit uns angeklagt war, übersetzte uns das Urteil. Und wissen Sie, was ich dachte? Ich hatte nur einen Wunsch: Frühstück. Ich hatte noch nichts gegessen an diesem Morgen, und das mag ich nicht.

Das klingt, als hätten Sie Ihre Gefühle abgestellt.

Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Du weißt nicht, was am nächsten Tag passiert. Ob du je nach Hause fahren kannst. Physischen Schmerz kann man aushalten. Wirklich schwer sind die Schmerzen in der Seele, die nie aufhören.

Was hat Ihnen geholfen?

Sehr wichtig ist die Familie. Ich habe immer meinen Vater bewundert, der Panzermechaniker bei der bulgarischen Armee war. Er ist bis heute sehr diszipliniert. Einmal sollte er einen Wagen nachts in eine andere Stadt fahren, 200 Kilometer weit weg. Morgens um fünf Uhr musste das Fahrzeug da sein. Mein Vater bekam in der Nacht eine schwere Lungenentzündung. "Lassen Sie den Wagen, wo er ist, Sie könnten unterwegs sterben", sagte seine Ärztin. Er sagte: "Um fünf nach fünf kann ich sterben. Aber um fünf Uhr steht der Wagen auf dem Parkplatz." Er fuhr los, er kam pünktlich an, er stieg aus und brach zusammen. Er überlebte.

Wie oft haben Sie an diese Geschichte gedacht?

Jedes Mal wenn ich durchhalten musste. Wenn die Verzweiflung kam. Ich habe im Hof unseres Gefängnisses gesessen, dort habe ich manchmal Patiencen gelegt. In letzter Zeit musste ich dabei oft laut schreien: "Lieber Gott, mach, dass das alles ein Ende hat!" Ich habe auch geweint. Vor allem, wenn ich mit meiner Familie in Bulgarien telefonierte. Mein Vater erlitt zwei Hirnschläge. Ich flehte ihn am Telefon an: "Papa, du darfst nicht sterben! Wenn ich wiederkomme, musst du am Leben sein!" Er hat mir versprochen, nicht zu sterben, und er hat Wort gehalten. Er ist schwer krank, doch er lebt.

Hatten Sie Angst vor dem Tod?

Ich habe nie daran geglaubt, dass wir hingerichtet werden. Und ich habe mir gedacht: Pass auf, dass du dir den Tod nicht herbeiwünschst. Denn wenn du an so etwas Schlimmes denkst, tritt das auch ein, sagt ein bulgarisches Sprichwort.

Warum sind Sie 1998 nach Libyen gezogen?

Das Leben in Bulgarien war damals nicht leicht. Krankenschwestern haben nicht viel mehr verdient als ein paar Dollar. Bei der bulgarischen Vermittlungsfirma Expomed habe ich mich für Libyen beworben. Mein Mann war vor 20 Jahren als Arbeiter mit einem Bautrupp dort gewesen. Er hatte gute Erfahrungen gemacht. Mein Mann und meine beiden erwachsenen Kinder blieben in Bulgarien zurück. Ich sollte in Libyen 250 Dollar verdienen. Das war der Grund für die Reise. Ich wollte etwas für meine Familie tun.

Welchen Eindruck hatten Sie vom Kinderkrankenhaus in Bengasi?

Es war ein gutes Gebäude, das Krankenhaus war gut ausgestattet, und es gab auch genügend Medikamente. Aber es war unhygienisch und dreckig. Neben den Waschbecken lag nicht einmal Seife. Die bulgarischen Krankenschwestern trugen deshalb immer Seife und Handtücher in ihren Kitteltaschen mit sich herum. Ich habe einfache Arbeiten in der Notaufnahme verrichtet: Fieber gemessen, Medikamente verteilt. Die Ärzte haben kleine Zettel mit medizinischen Anweisungen geschrieben.

Wussten Sie von den vielen HIV-Fällen im Krankenhaus?

Offiziell wurde darüber nicht gesprochen. Gerüchte gab es schon, als ich ankam. Bulgarische Schwestern sagten mir, man habe über 200 Fälle diagnostiziert. Später wurde ich in die Abteilung für die HIV-Infizier-ten versetzt. Ich war für ein Zimmer mit fünf Kindern zuständig, die keine Eltern mehr hatten. Sie waren sehr klein, zwischen ein und zwei Jahren alt. Ich konnte nicht mit ihnen sprechen, aber ich habe sie gepflegt.

Der Vorwurf der Libyer lautete später, Sie hätten Kinder absichtlich mit dem HI-Virus angesteckt. Aber die Kinder waren doch alle bereits infiziert?

Die ganze Geschichte ist wahnsinnig bis ins letzte Detail.

Kannten Sie damals Ihre späteren Mitgefangenen schon?

Nur vom Sehen, die anderen waren schon länger in Bengasi. Ich kam als Letzte.

Sie haben sie erst im Gefängnis kennengelernt?

Auch nicht sofort. Als wir das erste Mal länger zusammen waren, konnten wir uns nicht sehen und auch nicht sprechen. Weil man Ihnen die Augen verbunden und den Mund mit Pflaster zugeklebt hatte, als man Sie Anfang 1999 in der Klinik festnahm. So mussten wir mehr als zehn Stunden lang ausharren. Ein Bus mit abgedunkelten Scheiben brachte uns nach Tripolis.

Wussten Sie, warum?

Das habe ich bei den Verhören erfahren. Wie liefen die ab? Lange Zeit habe ich mich gefragt: Wie kann so etwas passieren? Da stürzen sich 10 bis 15 Mann auf eine 47-jährige Frau, um sie zu zermalmen. Um sie zu schlagen. Wir alle wurden geschlagen. Wir sollten absurde Dinge gestehen.

Wurden Sie gefoltert?

Sie wollten Geständnisse. Wir sollten zugeben, dass wir die Kinder absichtlich infiziert hatten. Ich dachte mir: Ich werde das Spiel nicht mitspielen, in keiner Weise. Ich habe einfach gar nichts gesagt. Man kann Schmerzen bis zu einer Grenze ertragen. Wenn die überschritten wird, macht es einen stark. Ich habe den Schmerz ertragen und mich hinterher als Siegerin gefühlt.

Was hat man mit Ihnen gemacht?

Meine Hände wurden hinter meinem Rücken zusammengebunden. Dann wurden sie mit einem Seil am oberen Türrahmen verknotet. Ich musste mich auf einen Stuhl stellen. Den zogen sie weg. Ich hing vier Stunden lang über dem Boden. Dabei hatte ich das Gefühl, meine Lunge zerreißt. Ich konnte nicht atmen, nicht auf die Toilette, ich spürte meine Arme nicht mehr vor Schmerz. Danach konnte ich Hände und Arme sechs Monate lang kaum bewegen. Nicht einmal ein Glas Wasser konnte ich halten. Später wurde ich mit Strom gequält. Ich dachte, ich stehe das nicht durch. Aber ich wollte in Ehren sterben.

Wo war das?

Man verlegte uns in eine Schule für Polizeihunde.

Über ein Jahr lang waren Sie in Isolationshaft, mehr als zwei Jahre ohne Kontakt zu Ihrer Familie.

Ich erinnere mich an meinen ersten Gang ins Freie nach drei Monaten. Es war wunderbar zu atmen und die Sterne zu sehen. In Libyen sind die Sterne größer, der Himmel hängt tiefer. Ich habe mir die schönsten Sterne ausgeguckt und ihnen die Namen meiner Kinder, meines Mannes und meiner Eltern gegeben. Ich habe auch Steine gesammelt, ihnen Namen gegeben und mit ihnen gesprochen. Ich habe mir vorgestellt, die Steine wären Menschen.

Konnten Sie sich mit den Wachleuten verständigen?

Nicht alle waren schlechte Menschen. Ich habe mir unter ihnen ein Mädchen und einen Jungen ausgeguckt. Sie waren für mich Polly und Ivo, meine Kinder. Ich habe sie auch so genannt. Sie haben mir manchmal etwas geschenkt, Seife oder einen Kamm. Das war eigentlich verboten. Sie haben mir auch arabische Wörter beigebracht. Winzigkeiten erhalten einen am Leben. Ich konnte mir vieles vorstellen. Wenn du lange Zeit vor dich hinstarrst, dann siehst du alles, was du willst. Ich habe meinen Mann und meine Kinder gesehen. Sie kamen zu mir. Es gab Augenblicke, da habe ich die unwahrscheinlichsten Dinge erlebt in meiner Zelle.

Wann konnte Ihre Familie Sie das erste Mal besuchen?

Zwei Jahre nach der Verhaftung. Bulgarische Journalisten hatten den Angehörigen die Tickets bezahlt. So kam mein Sohn Ivo nach Libyen. Als ich ihn sah, hat er gezittert vor Angst. Es war auch für ihn schrecklich. Die langen Korridore, Türen, die hinter ihm zuknallten. Wir waren damals im Dschudaida- Gefängnis in Tripolis. Ratten liefen herum, überall war Dreck. Dort traf ich meinen Sohn.

Wie war es, ihn zu sehen?

Schrecklich. Ich wollte ihn nicht wieder weglassen. Wir konnten uns nicht trennen. Ich habe mich furchtbar gefühlt.

Später mussten Sie sich Zimmer oder Zellen mit vier Mitgefangenen teilen. War die Gesellschaft der anderen Frauen eine Hilfe?

Es ist sehr schlimm, acht Jahre mit Menschen zu leben, die ganz anders sind als man selbst. Die meiste Zeit war ich allein. Ich bin mit keiner von ihnen befreundet, habe niemanden an mich herangelassen.

Gab es Spannungen unter Ihnen?

Ich wurde dreimal zum Tode verurteilt, weil zwei der anderen Frauen Geständnisse unterzeichnet oder sogar selbst geschrieben hatten. Darin beschuldigten sie auch mich. Sie haben meinen Namen genannt, obwohl sie mich gar nicht kannten.

Die Frauen haben unter Folter gestanden...

Sicher wurden sie gefoltert. Aber nach der Folter war eine von ihnen sogar noch imstande, mit der Hand ein Geständnis zu schreiben. Das konnte ich nach der Folter nicht. Und ich habe niemanden beschuldigt. Ich habe dieselbe Hölle durchlaufen wie sie, aber verraten habe ich niemanden.

Sie hatten Streit darüber, wer mehr gefoltert wurde?

Das Schlimmste ist, dass sich die Frauen für ihre Geständnisse nie entschuldigt haben. Wir diskutierten das heftig. Auch Aschraf, der palästinensische Arzt, hat ein Geständnis gegen mich abgelegt. Als wir uns trafen, hat er sich dafür entschuldigt. Man habe ihm gedroht, seine vier Schwestern zu holen und sie vor seinen Augen zu vergewaltigen, sagte er. Aschraf sah damals aus wie ein Verrückter vor lauter Leid.

Eine der Mitgefangenen, die ein Geständnis geschrieben hat, versuchte sich umzubringen. Sie hat sich mit Glasscherben die Pulsadern aufgeschnitten, weil sie die Folter mit Stromschlägen nicht mehr ertragen konnte.

Das stimmt. Aber dann wurde ich an ihrer Stelle mit Strom gefoltert, zum ersten Mal. Dies war ein schrecklicher Tag für uns alle, denn die Folterer rächten sich an uns. Die Frau, die sich töten wollte, hat nur an ihre Erlösung gedacht, aber nicht an uns.

So haben die Libyer Zwietracht gesät und Ihnen das Leben zur Hölle gemacht. Es war das Werk der Folterer.

Es gab auch gute Leute unter den Libyern. Für den Sohn eines Polizisten habe ich mit der Hand eine Jeans genäht. Einem anderen habe ich eine Hose für seine kleine Tochter geschenkt. Sie ist sehr schön geworden, mit aufgenähten Mäuschen auf dem Latz. Für den Chef des Frauengefängnisses habe ich ein Sakko gemacht. Ich versuche, mich an das Gute zu erinnern

Womit haben Sie sonst die endlose Zeit verbracht?

Am liebsten war mir, wenn irgendetwas kaputtging. Dann konnte ich versuchen, es zu reparieren. Zuerst habe ich eine defekte Kochplatte auseinandergenommen, die Einzelteile nummeriert und wieder zusammengesetzt. Sogar den Fernseher habe ich repariert, später auch die alten Polstersessel im Hof geflickt und neu bezogen. Wir haben auch alle zusammen Karten gespielt. Es gab Zeiten, da durften wir regelmäßig mit Bulgarien telefonieren. Wir durften fernsehen und haben auch die Beiträge über uns verfolgt. Unsere Haftbedingungen verbesserten sich, wir hatten zu fünft zwei Zimmer und eine Küche.

Wie war Ihre Rückkehr?

Die ganzen Jahre habe ich für diesen Augenblick gelebt. Davon hatte ich geträumt. Ich habe meine Familie wieder, meine Freunde. Und die Freiheit.

Manche Ihrer Mitgefangenen tun sich damit schwer. Sie sind die Einzige, die gleich am zweiten Tag nach Hause gegangen ist, die anderen blieben in Sofia.

Alle wollen, dass wir nun glücklich sind. Aber das sind wir nicht. Ich habe in der letzten Zeit der Gefangenschaft nicht mehr weinen können, und ich kann es auch jetzt nicht. Ich möchte mir vorstellen, dass alles, was passiert ist, nicht mich betrifft. Die Vergangenheit soll an mir vorbeischleichen.

Reden Sie mit Ihrer Familie über die Haft?

Wozu sollte ich sie traurig machen? Es macht mich froh, wenn ich sehe, dass sie nun glücklich sind. Ich möchte ihnen etwas geben. Es hat mich belastet, mir die Sorgen meiner Angehörigen vorzustellen.

Sie sind in ein anderes Land zurückgekehrt. Bulgarien, Sofia, auch Ihr Heimatdorf Litakovo haben sich verändert in den neun Jahren.

An meinem ersten Abend hat mein Neffe mich auf einen Spaziergang durch Sofia mitgenommen. Im Zentrum waren wir in einem Laden, der aussah wie im Märchen. Ich habe noch nie so ein großes, schönes Geschäft gesehen. Alles ist schöner geworden. Ich kenne mich kaum mehr aus.

Wie ist die Begegnung mit Freunden und Bekannten nach so langer Zeit?

Es ist mir unangenehm, im Mittelpunkt zu stehen. Selbst Fremde umarmen mich. Bei Bekannten und Freunden wundere ich mich, wie alt ihre Gesichter geworden sind.

Die Eltern der HIV-infizierten Kinder verlangen, dass Sie wieder nach Libyen zurückgebracht werden. Interpol solle Sie ausliefern.

Wir sind unschuldig. HIV-Experten haben längst bewiesen, dass sich das Virus vor unserer Ankunft verbreitet hatte. Ich würde den Eltern raten, sich um ihre Kinder zu kümmern. Sie sind krank und brauchen ihre Eltern. Wir nützen ihnen im Gefängnis nichts. Aber ich spüre keine Verbitterung gegenüber Libyen. Vielleicht hat mich das am Leben erhalten.

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