Sie ist Sprecherin des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), war für die UN schon in Syrien, Libyen und im Sudan – doch als Juliette Touma mit dem stern über die derzeitige Lage im Gazastreifen spricht, bricht ihre Stimme mehrfach. Sie sagt: Eine humanitäre Katastrophe wie diese habe sie noch nie gesehen.
Frau Touma, Israel hat eine Evakuierung für den Norden des Gazastreifens angewiesen. Bewohner sollen innerhalb von 24 Stunden ihr Haus verlassen und sich weiter im Süden in Sicherheit bringen. Was bedeutet das für die humanitäre Lage dort?
Es ist grauenhaft. Während wir sprechen, findet gerade ein Exodus statt. Die Menschen fliehen in Scharen. Es gibt nur eine Küstenhauptstraße nach Süden. Diese Evakuierungsanweisung ist unmöglich durchzusetzen. Die betroffene Region ist das Herzstück von Gaza. Gut eine Million Menschen leben da. Dort befinden sich unser UN-Hauptquartier und auch die meisten Krankenhäuser. Was soll jetzt aus den Schwerverwundeten werden, die dort liegen?
UNRWA hat 13.000 Mitarbeiter in Gaza. Elf davon sind durch die Bombenschläge Israels bereits getötet worden. Wie gehen Sie damit um?
Leider ist die Zahl gestiegen. Inzwischen sind 13 unserer Mitarbeiter getötet worden, darunter Lehrer, ein Arzt, ein Ingenieur. Männer, Frauen, ihre Familien. Unsere Mitarbeiter vor Ort haben Todesangst. Das höre ich – in den Anrufen und Sprachnachrichten, die ich erst heute Morgen von ihnen bekommen habe. Sie wussten nicht, was die nächste Minute bringen würde. Diejenigen, die Kinder haben, erzählten, wie hilflos sie sich fühlen. Denn sie können ihren Kindern nicht versichern, dass alles in Ordnung sein wird. Kinder und Zivilisten haben nichts mit Politik zu tun! Sie haben nichts mit diesem Konflikt zu tun! Sie dürfen nicht getötet werden! Ich arbeite seit 20 Jahren für die UN. Ich war in Syrien, im Jemen, im Sudan, im Irak, in Libyen. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Können Sie aktuell überhaupt noch Hilfe leisten?
Die meisten unserer Programme vor Ort mussten gestoppt oder angepasst werden. Die Schulen, in denen wir normalerweise über 300.000 Kinder unterrichten, sind jetzt seit gut einer Woche zu. Unsere Essensausgabe für fast 1,2 Millionen Menschen wurde reduziert. Wir haben unsere 14 Verteilerzentren schließen müssen, weil wir keine Nahrungsmittel mehr nach Gaza bekommen. Unsere Vorräte gehen schnell zuneige. Die UNRWA-Mitarbeiter haben das Hauptquartier in Gaza-City verlassen und sind in unser Verteilerzentrum ganz in Süden, nach Rafah, geflohen. Viele unserer Einrichtungen fungieren jetzt als Zufluchtsorte. Vorige Nacht kamen dort 270.000 Menschen unter. Diese Zahlen haben sich innerhalb der letzten Stunden drastisch erhöht.
Wie steht es um die Wasser- und Stromversorgung vor Ort?
Es ist tragisch. Wasser und Strom sind im Großteil des Gazastreifens nicht mehr verfügbar. Vor dem 7. Oktober war Gaza abhängig von Wasser, das aus dem israelischen Privatsektor mithilfe von Trucks kommt. Diese Lieferungen gibt es nun nicht mehr.
Deutschland will zwar weiter humanitäre Gelder in palästinensische Gebiete zahlen, hat seine Entwicklungshilfe aber vorerst gestoppt. Berlin ist der zweitgrößte Geldgeber von UNRWA. Welche Folgen hat das für Sie?
Ohne Deutschland hätten wir unsere ganze Arbeit nie realisieren können. Wir sind zwar in ständigem Austausch mit deutschen Regierungsvertretern. Aber noch wissen wir ehrlich gesagt nicht, ob uns dieser Zahlungsstopp betrifft oder nicht. Auch über mögliche Summen kann ich noch nichts sagen.
In Deutschland wird immer wieder Kritik an Ihrer Organisation laut. Der Grünen-Politiker Volker Beck etwa sagte dem stern kürzlich, UNRWA-Mitarbeiter seien zum Teil Hamas-treu. Ist das wirklich so?
Wir haben ein robustes Kontrollsystem in unserer Personalabteilung. Unsere zukünftigen und auch aktuellen Mitarbeiter werden überprüft. Und wir trainieren sie in Bezug auf Neutralität und die Werte der Vereinten Nationen.
Ein weiterer Kritikpunkt: An UNRWA-Schulen kämen Lehrbücher zum Einsatz, die unter anderem die palästinensischen Olympia-Attentäter von München 1972 verherrlichen. Diese Bücher stellt zwar die Palästinensische Autonomiebehörde. Aber können Sie trotzdem nichts dagegen tun?
UNRWA hat keine eigenen Schulbücher. Wir nutzen das Material des staatlichen Lehrplans – sei es im Libanon, in Jordanien, Syrien, im Westjordanland oder eben in Gaza. Das hat den einfachen Grund, dass UNRWA-Schulen meist nur bis zur neunten Klasse gehen, die Kinder danach auf eine öffentliche Schule wechseln und der Übergang so leichter ist. UNRWA begutachtet diese Schulbücher regelmäßig, um sicherzustellen, dass nichts Kontroverses in unseren Schulen gelehrt wird. Dafür gibt es ein eigenes Komitee. Das Gegenteil ist der Fall: Unsere Schulen sind mit die einzigen in der Region, in denen Kinder über Menschenrechte und Toleranz lernen.
Was braucht es in diesem Moment für die Menschen in Gaza?
Es sollte einen bedingungslosen, offenen humanitären Korridor für Gaza geben. Damit Menschen, die das wollen, fliehen können, und wir unsere Vorräte hineinbringen. Das sind die beiden obersten Prioritäten: Schutz der Menschen und humanitärer Zugang.
Die israelische Armee wird bald mit Panzern in den Gazastreifen ein, erste Razzien laufen bereits. Was befürchten Sie in Bezug auf die nächsten Tage?
Wir befürchten das Schlimmste. Es ist eine Tragödie. Vor den Augen der Welt werden die Menschen in Gaza an den Rand des Abgrunds gedrängt. Es hat sich in ein Höllenloch verwandelt.