Das Geräusch nähert sich schnell und aus der Dunkelheit der Erde löst sich ein Zug. Im Tageslicht kommt er abrupt zum Stehen. Die Männer vor dem Schachteingang werfen Holzplanken und Ziegelsteine in die Loren. Ein Bergmann mit Helm und Grubenlampe springt auf den letzten Wagen. Dann lässt das straffe Stahlseil den Zug wieder hinab in die Tiefe. Liu Qiuxia blickt ihm nach. Unten im Berg hauen seine Kollegen einen neuen Stollen ins Gestein. Sie brauchen das Holz, um den Schacht zu sichern. Es muss schnell gehen, sonst könnte die unbefestigte Sprengstelle einstürzen. Von hier oben ist kein Licht zu erkennen. Es ist, als sei der ummauerte Schlund der Eingang zu einer anderen, dunklen Welt, tief unterhalb der Stadt Datong in der nordchinesischen Provinz Shanxi, dem Zentrum der chinesischen Kohleförderung.
Liu ist heute für die Sicherheit der Kumpel zuständig, ihre Verbindung zur Oberwelt, er und das drei Zentimeter dicke Stahlseil. Vor Arbeitsbeginn durchsucht er sie, klopft Hosen und Jackentaschen ab, damit die Arbeiter nicht heimlich Zigaretten und Feuerzeuge mit in den Berg nehmen und womöglich eine Gasexplosion auslösen.
Als sei er in die Länge gezogen worden
Liu, 28 Jahre alt, ist ein dürrer Mann mit schmalem Gesicht und vollem Haar. Eine feine Schicht aus Kohlestaub liegt auf seinem Gesicht, doch er lacht viel und aus dem schwarzen Dreck taucht jedes Mal eine Reihe weißer Zähne auf. Liu ist groß, fast 1,80 Meter - ungewöhnlich für einen Chinesen aus dem Süden. Doch sein Körper ist schmal, als sei er mit Gewalt in die Länge gezogen worden; dünn sind auch seine Arme und Beine. Seit zwölf Jahren arbeitet Liu im Bergbau, schwingt Hacken und schiebt Loren, doch sein Körperbau erinnert noch immer an die Statur eines Kindes und der schwarze Ledergürtel, den er um seine Hose wickelt, wenn er an seinem freien Tag in die Stadt geht, reicht fast zwei Mal um seine Taille.
Die große Serie ...
... zur Geschichte Chinas.
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In Datong brennt Kohle in den Öfen der Wohnzimmer, in den Küchen zu Hause und in den Restaurants. Kohle befeuert Fabriken, erzeugt Strom und treibt Maschinen an. Kohle ist das Grundnahrungsmittel von Datong. Seit 2200 Jahren wird in China Kohle abgebaut. Als die Kaiser der Song-Dynastie vor über 1000 Jahren entschieden, ihre Hauptstadt in die zentralchinesische Garnisonsstadt Kaifeng zu verlegen, wurde beim Bau des Palastes so viel Holz verbraucht, dass damit auch sämtliches Brennmaterial aus den umliegenden Wäldern verschwunden war. Die Menschen in Kaifeng mussten Alternativen suchen. China erlebte seinen ersten Kohleboom. Im Jahr 1078 verbot der Kaiser den Bergbau. "Sämtliche chinesische Minen werden schlecht verwaltet", hieß es damals in einem Bericht der kaiserlichen Untersuchungskommission. Das Verbot ließ sich nicht durchsetzen.
Plötzlich der reichste Mann im Dorf
Kurz nach seinem 16. Geburtstag bewarb sich Liu beim Militär. Doch seine Mutter fand das zu gefährlich und ließ ihn nicht gehen. Aus Wut packte er heimlich seine Sachen und setzte sich in den Zug nach Shandong, dem Zentrum der chinesischen Eisenindustrie. Im Dorf hatte er gehört, dass im Bergbau die höchsten Gehälter gezahlt würden. Er fand einen Job als Hilfsarbeiter in einer privaten Mine. Schon im ersten Monat verdiente er 800 Yuan. Der Junge, der vier Jahre vorher von der Schule geflogen war, war auf einmal der reichste Mann aus dem ganzen Dorf geworden. Liu sparte streng und schickte fast sein ganzes Gehalt an seine Eltern. Dann hörte er, dass in den Kohleminen von Shanxi noch höhere Löhne gezahlt würden und machte sich auf den Weg nach Datong.
Der Autor
Janis Vougioukas lebt seit Sommer 2002 als freier Autor in Shanghai. Die faszinierendsten Menschen, die er während seiner Recherchen für zahlreiche Zeitungen und Magazine traf, porträtiert er in einem Buch, aus dem stern.de Auszüge veröffentlicht.
"Man verdient im Bergbau kein Geld, wenn man sich an die Regeln hält", sagt Liu. Über 100 Kumpel arbeiten inzwischen in seiner Mine. Jede Schicht dauert 16 Stunden, danach gibt es 16 Stunden Pause. So läuft der Betrieb rund um die Uhr und den Arbeitern ist jedes Zeitgefühl abhanden gekommen. Alle zwei Monate, zum Zahltag, kommt der Minenbesitzer aus der Stadt mit prallen Geldkoffern und seine glänzenden Lederschuhe wirbeln kleine Staubwolken auf dem Boden auf. Alle warten nur auf den nächsten Zahltag.
17 tote Bergleute pro Tag
Chinas Bergwerke gehören zu den gefährlichsten Arbeitsplätzen der Welt. Im Jahr 2005 kehrten 6027 chinesische Bergarbeiter nicht mehr lebend an die Erdoberfläche zurück. Das sind durchschnittlich 17 Tote pro Tag. Sie wurden von einstürzenden Schächten verschüttet, bei Gasexplosionen zerfetzt oder ertranken, weil plötzlich Wasser in die Tunnel strömte. In Indien starben zwischen 1992 und 2002 etwa 1000 Bergleute bei der Arbeit. In China waren es im gleichen Zeitraum 59.543. Ein chinesischer Bergmann fördert im Schnitt 321 Tonnen Kohle pro Jahr - gerade zwei Prozent dessen, was ein amerikanischer Kumpel schafft. Doch ihre Todesrate liegt, gemessen an der Ausbeute, hundert Mal so hoch.
Liu sagt, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis sich der Bergbau in Datong nicht mehr lohnt. Die großen, leicht zu erschließenden Flöze sind bald abgetragen. Schon jetzt ist die Erde unter Datong löcherig wie ein Windbeutel, mit leeren Stollen und verwaisten Gängen. Hinter jedem Hügel liegt ein zugemauerter Einstieg. Irgendwann könnte die Erde unter den Füßen der Einwohner zusammenbrechen. Dann wird er weiterziehen, in ein anderes Bergwerk. So lange, bis das Haus fertig ist.
Skrupellose Unternehmer und korrupte Beamte
"Man kann zu viel Geld mit dem Bergbau verdienen", sagt Zhao Shengjun, der im Stadtzentrum einen Laden für Bergbauausrüstung eröffnet hat. Als er vor 20 Jahren nach Ningwu kam, gab es hier nur drei staatliche Bergwerke. Inzwischen sind es über 100 private und selbst die staatlichen Schachtanlagen werden an Subunternehmer verpachtet. Gerade einmal 100.000 bis 200.000 Yuan kostet es, in Zhaos Laden die Grundausrüstung für eine kleine Mine zu kaufen, von der Seilwinde bis zur Schaufel und zur Grubenlampe. Selbst die kleinen illegalen Bergwerke fördern pro Jahr leicht eine Million Yuan Profit. So ist in den Minenstädten von Shanxi inzwischen eine Kaste von Superreichen entstanden: skrupellose Unternehmer und korrupte lokale Beamte, die wie ein Wollknäuel ohne Anfang und Ende miteinander verworren sind.
Das Buch
Ein goldenes Klo, einen Sprachfanatiker, der 23.000 Fehler im chinesischen Wörterbuch entdeckt hat und ein in Planwirtschaft lebendes Dorf - dies sind nur einige der Gegensätze, die das moderne China in sich vereint und die Janis Vougioukas in seinem Buch "Wenn Mao das wüsste. Menschen im neuen China" porträtiert. ISBN 978-3-7766-2560-8, 17,90 Euro.
Nach den Unglücksjahren für den Bergbau, 2005 und 2006, interessierte sich plötzlich auch die Regierung in Peking für die Sicherheit der Bergleute. Doch das System ist schwer zu ordnen, weil zu viele Leute an den Kohlemillionen verdienen und die Strukturen zu unklar sind. Wenn die Regierung Liu Qiuxia fragen würde, warum es in den Schachtanlagen immer wieder zu Unglücken kommt, würde er von der Müdigkeit nach einer 16-Stunden-Schicht erzählen. Dass die Kumpel keine Ausbildung haben und dass sie ihre Werkzeuge oft selber bauen müssen.
Er würde antworten, dass es in seiner Mine tief unter der Erde einen Torbogen aus Backsteinen gibt, der immer wieder eilig zugemauert wird, wenn die Kontrolleure vorbeikommen. Dahinter liegt ein viele Hundert Meter tiefer Geheimschacht, aus dem die Bergleute inzwischen den größten Teil der Kohle an die Oberfläche bringen - und kein Entsandter der Bergbaubehörde hat ihn jemals gesehen. Viele Minenbesitzer haben Wachposten mit Funkgeräten aufgestellt - und manche haben die Bergstraßen mit Bulldozern zuschütten lassen, damit gar keine unangemeldeten Kontrollen mehr möglich sind.
Anmerkung d. Red.: 1000 Yuan sind derzeit knapp 90,60 Euro - Stand 4.4.08