Steuerpläne über Bord Liz Truss legt politische 180-Grad-Wende hin – aber ihre Tage in der Downing Street sind vermutlich gezählt

Britische Premier Liz Truss
Liz Truss beharrt darauf, weiter "zu liefern". Die Frage ist nur, welche Kehrtwende soll noch kommen?
© Kirsty Wigglesworth / DPA
Kaum sechs Wochen im Amt kämpft Liz Truss schon wieder um ihr politisches Überleben. Während die ersten Tories bereits an ihrem Stuhl sägen, bringt sich die Labour-Partei in Stellung.

Die Lage muss ernst sein, wenn die britische Premierministerin ihr Kabinett an einem Montagabend in der Downing Street zusammentrommelt. Für Liz Truss könnte es die letzte Chance sein, um ihre Minister davon zu überzeugen, dass sie doch noch alles im Griff hat. Inmitten der sich verdichtenden Regierungskrise war der Rausschmiss ihres Finanzministers Kwasi Kwarteng ein notwendiges politisches Opfer, um ihren eigenen Hals zu retten.

Doch mit der Berufung von Jeremy Hunt – einem angesehenen und regierungserfahrenen Schatzkanzler – hat sich Truss bestenfalls eine Atempause erkauft. Dieser wiederum verlor am Montag keine Zeit, die Premierministerin alles andere als gut dastehen zu lassen. In einer kurzfristig angesetzten TV-Ansprache machte Hunt so gut wie alle von Truss angekündigten Steuererleichterungen rückgängig. Sogar die Laufzeit des staatlichen Energiepreisdeckels – ihr politisches Herzensprojekt – wurde von zwei Jahren auf sechs Monate verkürzt. "Das wichtigste Ziel für unser Land ist jetzt Stabilität", so Hunt. Dabei hatte sich Truss in ihrer Parteitagsrede vor knapp zwei Wochen noch als "Verfechterin des Wandels" dargestellt.

Ihr Fokus liege weiterhin darauf, "zu liefern", sagte ein Regierungssprecher am Montag auf die Frage, ob die Premierministerin Konsequenzen ziehen werde. Doch die entscheidende Frage lautet: Wie viele Kehrtwenden kann sich Truss an ihrem 39. Tag im Amt noch leisten? 

Tories sägen bereits am Stuhl von Liz Truss

Während die Premierministerin also am Montagabend versuchen wird, zu besänftigen und zu erklären, trifft sich eine Gruppe hochrangiger Tory-Abgeordneter zum Abendessen – auf dem Tagesmenü steht "Truss am Spieß". Viele der Abgeordnete sind Unterstützer von Rishi Sunak, Truss' Konkurrent im Wahlkampf. Am wahrscheinlichsten sei es, dass "sie vor Weihnachten fällt", prophezeite Ex-Finanzminister George Osborne dem Sender "Channel 4". Noch deutlicher wurde der Tory-Abgeordnete Crispin Blunt: "Nein, ich denke, das Spiel ist aus", sagte er auf die Frage, ob Truss politisch überleben könne. Nun gehe es darum ihre Nachfolge zu regeln.

Mit dem Versprechen radikaler Steuererleichterungen und ihrem Beharren auf "Wachstum, Wachstum, Wachstum" hatte sich Truss im Sommer-Wahlkampf in ihrer eigenen Partei durchgesetzt. Laut ihrer als "Trussonomics" bezeichneten Strategie sollten niedrigere Steuern unmittelbar zu starkem Wirtschaftswachstum führen. Stattdessen geschah das Gegenteil: Die Anleger zogen sich verschreckt zurück, das Pfund stürzte in den Keller und die Bank of England musste mehrmals intervenieren. Die Premierministerin sah sich gezwungen, eine teilweise Abkehr von ihrer Steuerpolitik anzukündigen. Zusammen mit der Bestellung ihres neuen Finanzministers von Montag, ist die 180-Grad-Wende perfekt. Hunts Aussage war im Grunde "ein sehr höflicher Coup", bringt es der "Guardian"-Politikjournalist Peter Walker auf den Punkt.

Auch andere in Truss' Kabinett fragen privat, was ihre Regierung jetzt noch für einen Sinn hat, wo sie fast alle Vorhaben, mit denen sie angetreten war, über Bord werfen musste. Längst sind Spekulationen in der Welt, dass bereits 100 Briefe beim Vorsitzenden des "1922 Komitees", Sir Graham Brady, eingegangen seien, um zu versuchen, Truss offiziell zu stürzen. Selbst die "Sunday Times" fordert die Konservativen zum Sturz der Premierministerin auf: "Führende Tories müssen jetzt im nationalen Interesse handeln und sie so schnell wie möglich aus der Downing Street entfernen", heißt es dort in einem Meinungsartikel.

Kritik von Ökonomen – und sogar aus den USA

Der Druck auf Truss wächst auch vonseiten der Wirtschaft. Führende Ökonomen diskutieren inzwischen längst nicht mehr hinter vorgehaltener Hand über einen Wechsel an der Spitze. Alison Carnwath, eine leitende Beraterin bei der Investmentbank Evercore, sagte der "Financial Times", Truss sollte als "die am kürzesten amtierende Premierministerin aller Zeiten in die Rekordbücher eingehen". Der britische Top-Finanzier Guy Hands forderte öffentlich, Truss "sollte so schnell wie möglich gehen".

Von einer "selbstverursachten Krise von Liz Truss" spricht auch die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon, die derzeit verstärkt für ein unabhängiges Schottland wirbt. Je früher die Premierministerin den Platz räume, desto besser.

Und selbst aus den Vereinigten Staaten hagelt es Kritik. In ungewöhnlich deutlicher Manier ließ US-Präsident Joe Biden am Wochenende verlauten, er sei nicht einverstanden gewesen mit Truss' Ansatz, in Zeiten wie diesen Steuererleichterungen für Superreiche auf den Weg zu bringen. "Ich war nicht der einzige, der dies für einen Fehler hielt", so Biden. Es sei aber nicht an ihm, sondern an Großbritannien, darüber zu urteilen.

Selbst Rückkehr von Boris Johnson steht zur Debatte

Spätestens am Mittwoch muss sich die Premierministerin den Fragen der Abgeordneten im Parlament stellen. Sollte Truss wirklich die Vertrauensfrage gestellt werden, dürfte Großbritannien bald den fünften Regierungschef in sechs Jahren bekommen. Als mögliche Nachfolger werden bereits Ex-Finanzminister Sunak, die für Parlamentsfragen zuständige Ministerin Penny Mordaunt sowie der Verteidigungsminister Ben Wallace gehandelt. Selbst dem skandalumwitterten Ex-Premier Boris Johnson wird von einigen eine Rückkehr zugetraut. Da Truss selbst kein Mandat hat, wäre eine vorgezogene Neuwahl quasi unausweichlich. 

Diese könnte für die Tories jedoch bitter enden: In Umfragen führt die oppositionelle Labour-Partei teils mit mehr als 30 Prozentpunkten Vorsprung. Eine aktuelle "Opinium"-Analyse der Wahlkreise deutet sogar daraufhin, dass die Konservativen im Falle von Neuwahlen bis zu 219 Sitze im Abgeordnetenhaus verlieren würden. "Die Premierministerin behauptet, dass sie das Sagen hat, aber die Beweise an diesem Wochenende deuten darauf hin, dass sie zwar im Amt, aber nicht an der Macht ist", spottete Labour-Chef Keir Starmer.

"Hält sich Liz Truss länger als dieser Salat?", hatte die Boulevardzeitung "Daily Star" am Freitag gehässig gefragt – und einen Youtube-Livestream gestartet, auf dem ein Foto der Regierungschefin neben einem Salatkopf mit blonder Perücke und aufgeklebten Augen zu sehen ist.

Inzwischen ist das Foto umgedreht worden. Darunter steht: "Eilmeldung: Liz Truss ist abgetaucht".

Quellen: "The Guardian", "BBC", "The Telegraph", "The NY Times", mit DPA-Material