Machtkampf in der Ukraine Die Nacht der Sieger

Nachdem das Oberste Gericht eine Wiederholung der Wahl ansetzte, war es, als hätte die Ukraine die Fußball-WM gewonnen. Bis in den Morgen flossen feiernde Menschenmassen durch die Straßen im Zentrum Kiews.

Als Geräuschkulisse ein pausenloses Hupkonzert: Drei gleichlange Signale für "Ju-schtschen-ko", den Namen des ukrainischen Oppositionsführers, dem die Menschen mit ihren tagelangen Protesten doch noch die Möglichkeit erkämpften, in drei Wochen in einer fairen Wahl zum Präsidenten gewählt zu werden.

Unzählige kleine Gruppen mit den orangen Oppositionsfahnen laufen einander auf der zentralen Kreschtschatik-Straße entgegen, völlig fremde Menschen grüßen sich mit ungewohnter Wärme und spazieren weiter. Überall flackern spontan "Juschtschenko, Juschtschenko"-Sprechchöre auf.

Es ist die Nacht der Sieger. Wenige Stunden ist es her, dass das Oberste Gericht das Ergebnis der umstrittenen Stichwahl wegen schwerer Wahlfälschungen für ungültig erklärte und eine Wiederholung für den 26. Dezember ansetzte. Nach den Ereignissen der vergangenen zwölf Tage dürfte Oppositionsführer Viktor Juschtschenko der Sieg gegen Ministerpräsident Viktor Janukowitsch nicht mehr zu nehmen sein. Die Revolution ist allgegenwärtig. Die Farbe Orange, die schon in den vergangenen Tagen immer stärker das Stadtbild prägte, hat das Zentrum nun überflutet. Praktisch jeder trägt sie: Bändchen, Mütze, Tuch, Schal, Luftballon, Jacke, Haargummi, Plüschtier - die Leute lassen sich was einfallen.

Das wohl schönste, surrealistische Bild dieser Nacht ist ein Hochzeitspaar, dass um drei Uhr lächelnd über den Kreschtschatik flaniert. Sie lässt ihr langes weißes Kleid lässig durch den Straßendreck gleiten. Daneben stürzt sich eine Gruppe von Teenagern bei Temperaturen um Null Grad auf Eistüten von McDonald’s.

Rappen für Juschtschenko

Zudem bescherte die Ukraine der Welt die erste Rap-Revolution. Der flippige Song, bei dem die Leute so gerne ein beherztes "Tak!" -"Ja!" zu Juschtschenko - brüllen, ist zum Soundtrack der Wende in Kiew geworden. Auch diese Nacht klingt er überall aus offenen Autotüren, Radios oder wird von den Leuten einfach so gesungen. Musik ist überall. An einer Straßenecke singt ein Dutzend pensionierter Bergleute Volksweisen, 50 Meter weiter tanzen Jung und Alt zu ukrainischer Popmusik, an einer kleinen Bühne geht die ganze Nacht eine Freiluft-Disco ab. "Macht mit, das hält warm", ruft ein Junge Passanten zu.

Gespannte Ruhe dagegen einen halben Kilometer weiter am immer noch von Demonstranten belagerten Präsidentenpalast. Hinter den Absperrungen steht regungslos ein dichtes Spalier von Soldaten in schwarzen Uniformen, alle höchstens Anfang 20. Laternenlicht spiegelt sich in den schwarzen Helmen, auf den Barrieren verwelken Blumen, die keiner wegnimmt. Gegenüber die Reihen der Opposition: Gut zwei Dutzend junger und alter Männer in Armeejacken und orangefarbenen Bauarbeiterhelmen. Eine junge Frau schleppt eine Fünf-Liter-Kanne heißen Tee an und verteilt ihn - in orangen Plastikbechern.

Große Erwartungen lasten Juschtschenko

Den Hügel runter, am Kreschtschatik, feiern am ruhigsten die, die mit ihrem tagelangen Ausharren in der kalten Zeltstadt den Sieg erst möglich gemacht haben. "Ich bin müde", sagt ein Bergarbeiter aus der eigentlich Juschtschenkos Rivalen Janukowitsch zugerechneten Region Lugansk. "Ich habe jetzt erst begriffen, wie müde ich bin." Ein paar Meter weiter, an einer Straße der Zeltstadt, die den stolzen Namen "Prospekt der Freiheit" trägt, lässt ein Kollege seiner Fantasie freien Lauf: "Vielleicht nehmen sich die Russen ein Beispiel an uns. Denen geht es ja auch nicht besser."

Ob er sich denn sicher sei, dass mit Juschtschenko alles ganz anders werde, schließlich war der auch schon Ministerpräsident und Zentralbankchef unter dem bei den Demonstranten verhassten Präsidenten Leonid Kutschma. Und auch die zweitwichtigste Oppositionsführerin, Julia Timoschenko, zählte einst zu den reichsten Unternehmern des Landes und war auch schon mal dem Vorwurf der Steuerhinterziehung ausgesetzt. "Ich weiß nicht", sagt der Mann auf einmal leiser und wendet den Blick ab. "Aber wir konnten nicht mehr so weiterleben, verstehst Du? Hier geht es nicht nur um Juschtschenko. Hier geht es um Freiheit."

Von Andrej Sokolow/DPA