Der frühere Parlamentspräsident Arseni Jazenjuk - eine Schlüsselfigur der Protestbewegung in der Ukraine - soll die frühere Sowjetrepublik aus der Staatskrise führen. Nach dem Machtwechsel soll der 39-Jährige Interims-Regierungschef werden. Das schlug der sogenannte Maidan-Rat der Demonstranten am Unabhängigkeitsplatz in Kiew am Mittwochabend vor. Die prominenten Politiker Julia Timoschenko und Vitali Klitschko standen hingegen nicht auf der Kabinettsliste. Dem Vorschlag muss das Parlament in Kiew an diesem Donnerstag noch zustimmen.
Bei Protesten auf der Halbinsel Krim kam es zwischen Befürwortern und Gegnern einer Annäherung an Russland zu Zusammenstößen. Deutlich mehr als 10.000 Krimtataren demonstrierten vor dem Regionalparlament in Simferopol gegen eine Abspaltung der Autonomen Krim-Republik. Hingegen machten rund 4000 prorussische Demonstranten Stimmung für eine engere Anbindung der Krim an Moskau. Sicherheitskräfte sprachen von mindestens 30 Verletzten durch Stein- und Flaschenwürfe.
Sonderpolizei Berkut angeblich aufgelöst
In Sewastopol, dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim, übernahm nach einer Straßenabstimmung der Russe Alexander Tschalyi das Bürgermeisteramt. Moskautreue Kräfte richteten Grenzposten an den Zugängen zur Stadt ein. Die Führung in Moskau fürchtet, dass ukrainische Nationalisten den Autonomie-Status beenden könnten. Das will der Kreml nicht zulassen.
Das Innenministerium in Kiew teilte mit, dass die wegen blutiger Übergriffe auf Demonstranten in die Kritik geratene Sonderpolizei Berkut (Steinadler) aufgelöst worden sei. Einzelheiten des Erlasses waren zunächst nicht bekannt. Wo sich der abgesetzte Staatschef Viktor Janukowitsch aufhält, war weiter unklar.
Auf dem Maidan in Kiew wurde Jazenjuks Nominierung von Zehntausenden Aktivisten auch mit vielen Pfiffen aufgenommen, weil der 39-Jährige nicht für einen echten Neuanfang stehe. Der Maidan-Rat besteht aus Schlüsselfiguren der Protestbewegung in der Ukraine. Angesichts der prekären Finanzlage der Ukraine gilt der Posten des Regierungschefs als das schwierigste Amt. Das Land befindet sich in der schwersten Krise seit Jahrzehnten. Die internationale Gemeinschaft macht Finanzhilfen von einem Reformprogramm abhängig.
Rascher Meinungswechsel
Als "politischen Selbstmord" hatte Jazenjuk noch vor kurzem jede Beteiligung an der ukrainischen Übergangsregierung bezeichnet. "Diese Regierung steht vor einer ungeheuerlichen Herausforderung: Sie soll nichts Geringeres als das Land retten", sagte Jazenjuk jetzt. Im blutigen Machtkampf hatte er mit mitreißenden Reden sein Image als blasser Technokrat abgeschüttelt.
Der Professorensohn stammt aus Tschernowzy (Czernowitz) in der Bukowina, etwa 500 Kilometer südwestlich von Kiew. Einst galt er als politischer Ziehsohn des damaligen Präsidenten Juschtschenko. Als Außenminister vertrat der perfekt Englisch sprechende Vater von zwei Töchtern die Ex-Sowjetrepublik bereits international. Bei der Präsidentenwahl 2010 landete er mit knapp sieben Prozent der Stimmen jedoch abgeschlagen auf dem vierten Platz.
Seit Dezember 2012 führt Jazenjuk die Vaterlandspartei von Timoschenko als Fraktionsvorsitzender im Parlament. Bis zu Timoschenkos Haftentlassung galt er aber nur als "Platzhalter" der charismatischen Politikerin. Nach der Rückkehr der 53-Jährigen gilt Jazenjuks Nominierung als Präsidentschaftskandidat als unwahrscheinlich. Die Kandidatur als Ministerpräsident gibt ihm nach Ansicht von Experten die Möglichkeit, aus ihrem Schatten zu treten.
Jazenjuk versteht etwas von Wirtschaft
Für die Rettung der angeschlagenen Ex-Sowjetrepublik bringt er Erfahrung mit: Jazenjuk ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften sowie Ex-Zentralbankpräsident und ehemaliger Wirtschaftsminister. Dem Kiewer Kabinett soll auch der mutmaßlich gefolterte Regierungsgegner Dmitri Bulatow als Sportminister angehören. Der Kommandant des Protestlagers auf dem Maidan, Andrej Parubij, wird demnach Chef des Sicherheitsrates.
Der gestürzte Präsident Janukowitsch wurde unterdessen zur internationalen Fahndung ausgeschrieben, ebenso der abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko. Nach ihnen wird wegen der Tötung Dutzender Demonstranten wegen "Massenmordes" gefahndet.
Die ukrainischen Ex-Präsidenten Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma und Viktor Juschtschenko zeigten sich in einer gemeinsamen Erklärung tief besorgt über die Lage auf der Krim. Sie forderten insbesondere Russland auf, sich nicht in das Leben der Autonomen Krim-Republik einzumischen. Die Mehrheit der Bewohner der Halbinsel sind Russen.
USA wollen mit Kreditbürgschaft helfen
Am Mittwochabend wurde zudem bekannt, dass die USA der Ukraine eine Kreditbürgschaft von einer Milliarde US-Dollar zusagen. Außerdem seien direkte Finanzhilfen im Gespräch, sagte US-Außenminister John Kerry vor Journalisten in Washington. Es sei nicht genug, den Anbruch der Demokratie zu verkünden und dann nichts zu unternehmen, sagte der US-Chefdiplomat. Es gebe einen starken Rückhalt im Kongress, dem angeschlagenen Land unter die Arme zu greifen.