Italien durchlebt seit dem Zusammenbruch der Mitte-Links-Koalition und dem Rücktritt von Regierungschef Giuseppe Conte eine tiefe politische Krise. Jetzt könnte ein Mann, der sich seinerzeit schon in der Eurokrise als entschlossener Retter erwiesen hat, sein Heimatland wieder in ruhigeres Fahrwasser lenken: Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), Mario Draghi, wurde am Mittwoch von Staatspräsident Sergio Mattarella mit der schwierigen Aufgabe einer Regierungsbildung betraut.
Schon in den vergangenen Wochen war Draghi als möglicher Nachfolger Contes gehandelt worden. Bislang hatte er sich dazu jedoch bedeckt gehalten. Schon nach seinem Ausscheiden aus der EZB im Oktober 2019 antwortete er auf die Frage nach etwaigen politischen Ambitionen: "Ich weiß es wirklich nicht. Fragen Sie meine Frau. Die weiß es."
Italien braucht Geld – Mario Draghi ist jetzt auch als Wirtschaftsexperte gefragt
"Mario Draghi ist eine extrem gut vorbereitete und entschlossene Persönlichkeit", zitiert die Nachrichtenagentur AFP den Politikexperten Giuliano Noci vom Polytechnikum Mailand. Um eine Expertenregierung bilden zu können, müsste sich der 73-jährige Wirtschaftsfachmann jedoch zunächst die Unterstützung von genug Parteien im Parlament sichern. "Er wäre sicherlich in der Lage, Italien mit Unterstützung des Parlaments aus der Krise zu führen", schätzt Noci. Denn neben der politischen Krise steckt das Land vor allem mitten in der Coronapandemie, und auch in der Wirtschaft läuft es schlecht.
Generell gilt Draghi als europanaher Wirtschafts- und Finanzexperte mit politischem Gespür und Mut. Ein möglicher Grund, weshalb die Wahl auf ihn fiel, könnte der Zeitdruck für die Erstellung eines Investitionsplans sein. Italien muss diesen in einigen Wochen bei der EU-Kommission in Brüssel vorlegen, um milliardenschwere Hilfsgelder aus dem EU-Wiederaufbaufonds zu bekommen. Diese Chance auf "außergewöhnliche Mittel der EU", wie Draghi sie beschrieb, will sich das Land mit rund 60 Millionen Einwohnern nicht entgehen lassen.
Der 1947 in Rom geborene Draghi ist studierter Wirtschaftswissenschaftler und promovierte am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA. Er unterrichtete an verschiedenen italienischen Universitäten, bevor er zwischen 1984 und 1990 sein Land bei der Weltbank vertrat. 1991 wurde er als Generaldirektor ins italienische Finanzministerium berufen, ein Posten, den er zehn Jahre lang unter neun verschiedenen Regierungen innehatte. In dieser Zeit war er mitverantwortlich für zahlreiche große Privatisierungen in Italien.
2002 wechselte er in die Führungsetage von Goldman Sachs. Ein Schritt, der ihm bis heute von Kritikern vorgeworfen wird, da die US-Investmentbank für viele Kritiker als ein Symbol der Exzesse an der Wall Street gilt. 2005 wurde Draghi zum Nachfolger von Antonio Fazio an der Spitze der italienischen Notenbank ernannt, die in einen Bankenskandal verwickelt war.
Im November 2011 trat der zweifache Familienvater schließlich inmitten der Eurokrise das Amt des EZB-Chefs an. Acht Jahre leitete der ehemalige Jesuitenschüler die einflussreiche Institution. In dieser Zeit ergriff der Italiener Maßnahmen, die bei der Einführung des Euro vor 20 Jahren noch undenkbar gewesen wären: Negativzinsen, massive Ankäufe von Staatsanleihen und enorme Kredite für Banken.
"Whatever it takes" sind seine wohl berühmtesten Worte
Im Sommer 2012 gelang es "Super Mario" mit einer Rede in London, in der er versicherte, "alles Notwendige" ("Whatever it takes") zu tun, um den Euro zu retten, das Blatt in der Euro-Krise zu wenden. Draghis Worte trugen nach Auffassung von Experten entscheidend zur Beruhigung der Finanzmärkte und damit zur Rettung der Einheitswährung bei.
Doch Kritiker, allen voran Deutschland und die Niederlande, warfen ihm vor, durch seine Zinspolitik keine Anreize für Reformen überschuldeter Länder zu schaffen und Sparer zu ruinieren. Die "Bild"-Zeitung bezeichnete ihn gar als "Graf Draghila", der deutsche Konten "leersaugt". Doch der freundliche Italiener mit einer Vorliebe für schlichte Anzüge hat sich immer davor gehütet, für die südeuropäischen Länder Partei zu ergreifen.
Draghi ist für seine Diskretion, Ernsthaftigkeit und Entschlossenheit bekannt. Das in Rom gerne zelebrierte mondäne Leben ist ihm fremd. In Italien genießt er großes Ansehen. Im Januar dieses Jahres gründete sich gar eine Bürgerbewegung, die den Ökonomen gern als Retter in der Krise sehen würde. Auch an der Mailänder Börse kam die Nachricht vom Auftrag zur Regierungsbildung für Draghi gut an. Der Börsenindex stieg nach der Nachricht, Draghi solle nun eine Regierung bilden, am Mittwoch sogleich um drei Prozent.