Michail Chodorkowski, der in blauen Anstaltshosen und schwarzem Polohemd hinter den Gittern des Angeklagtenkäfigs stand, verzog kaum eine Miene, als die Entscheidung des Gerichts verkündet wurde. Nur ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, als wolle er sagen, es war ja nichts anderes zu erwarten.
Seine Mutter Marina tat es ihm gleich, regungslos nahm sie die Worte zur Kenntnis. Beide Verhandlungstage hatte sie im Gerichtssaal im sibirischen Chita gesessen, so nah wie möglich bei ihrem Sohn. Sie warf ihm noch einen kurzen Blick zu, aber da hatten ihm die Justizbeamten schon wieder Handschellen angelegt und ihn unter den Augen schwer bewaffneter Soldaten einer Spezialeinheit aus seinem Käfig geführt.
Die Familie war hoffnungsfroh
Dass Chodorkowskis Antrag auf vorzeitige Haftentlassung, den jeder russische Häftling nach Verbüßung der Hälfte seiner Strafe stellen kann, abgelehnt wurde, ist sicher keine Überraschung. Und dennoch, die Familie hatte Hoffnung. Noch am Tag vor der Entscheidung sagte seine Mutter zu stern.de: "Unser neuer Präsident Medwedew hat doch davon gesprochen, dass er das Justizsystem reformieren will. Dass die Gerichte unabhängig entscheiden sollen. Die Freilassung meines Sohnes wäre ein deutliches Signal dafür, dass er es ernst meint."
Kurz danach hielt sie im Gerichtssaal eine emotionale Rede. Ihr Sohn sei keiner "von diesen Oligarchen" gewesen, die sich von ihrem Vermögen luxuriöse Yachten kaufen und ins französische Courchevel in den Urlaub fliegen. Er habe sich sozial engagiert, für Jugendliche, die ihr heute noch voller Dankbarkeit schreiben würden. Zu Hause würden seine Frau und vier Kinder auf ihn warten. "Hohes Gericht", sagte sie, "ich bin jetzt 74. Wenn sie möchten, dass ich meinen Sohn in diesem Leben noch einmal in Freiheit sehen darf, dann geben sie seinem Gesuch bitte statt."
Der Oppositions-Oligarch
Chodorkowski, der einst Russlands reichster Mann und Inhaber des Ölkonzerns Yukos war, galt immer als der Oppositionelle unter den Oligarchen. Er hatte mit seinem Geld Kreml-kritische Organisationen wie die Partei "Jabloko" (zu deutsch: Apfel) unterstützt. Nachdem Putin 2000 an die Macht kam, war schnell klar, dass sich die beiden Männer nicht ausstehen können. Einmal soll Putin sogar getobt haben, weil Chodorkowski es wagte, ihm ohne Krawatte gegenüberzutreten. Obwohl es damals deutliche Hinweise gab, dass Chodorkoswskis Verhaftung nur eine Frage der Zeit ist, verließ er nie das Land. Warum nicht, bleibt bis heute ein Rätsel. Er selbst sagt, er habe keine Verbrechen begangenen, warum hätte er wie ein Verbrecher flüchten sollen?
Eine andere Erklärung lautet, dass es zu jener Zeit hinter den Kreml-Kulissen heftige Auseinandersetzungen zwischen Geheimdienst-Hardlinern und Wirtschaftsliberalen darüber gab, wie mit dem aufsässigen Ölmagnaten umzugehen sei. Die Liberalen, zu denen auch Dmitri Medwedew gehörte, damals Vize-Chef der Präsidentenadministration, versicherten Chodorkowski angeblich, er habe nichts zu befürchten. Doch die endgültige Entscheidung wurde 2003 im Lager der Hardliner getroffen und Chodorkowski in seinem Privatjet von einer Spezialeinheit festgenommen.
Ein politischer Schauprozess
Es kam zu einem wochenlangen Prozess, bei dem viele fragwürdige Beweise vorgelegt wurden und der von ausländischen Beobachtern als politischer Schauprozess bezeichnet wurde. Am Ende lautete das Urteil: acht Jahre Straflager. Die meisten davon hat Chodorkowski bis jetzt in Sibirien nahe der mongolischen Grenze abgesessen. Zur Verhandlung nach Chita waren gestern auch Chodorkowski-Fans angereist. Ein junger Mann mit einem roten T-Shirt, das Chodorkowskis Gesicht als Che Guevara-Silhouette zeigte, sagte in die Fernsehkameras: "Er hat sich wie alle Oligarchen sicher auch mit halblegalen Mitteln bereichert. Aber von den Schlimmsten war er der Beste."
Chodorkowski wurde von zwei Anwälten vertreten, die beweisen wollten, dass er sich im Gefängnis gut führt, die Grundvoraussetzung für eine vorzeitige Entlassung. Ihr Kronzeuge war ein ehemaliger Autodieb namens Igor Gnesdilow, der mit Chodorkowski längere Zeit in einer Zelle saß. Im Oktober hatte Gnesdilow den Ex-Milliardär bei der Gefängnisleitung angeschwärzt, weil er beim Hofgang nicht wie vorgeschrieben die Hände auf dem Rücken verschränkt haben soll. Vor Gericht widerrief Gnesdilow die Beschuldigung. Er sei unter Druck gesetzt worden und habe die Falschaussage unterschrieben, weil er seine eigene vorzeitige Haftentlassung nicht gefährden wollte. Außerdem sagte Gnesdilow, ein hagerer blonder Mann Anfang 40, dass Chodorkowski mehr als jeder andere Gefängnisinsasse Opfer von Schikanen gewesen sei und das mit erstaunlicher Gelassenheit ertragen hätte.
Ein "ruhiger und disziplinierter Häftling"
In diversen Gutachten, die die Anwälte verlasen, wurde Chodorkowski als "ruhiger und disziplinierter Häftling" bezeichnet. Doch auch das konnte die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen. Der Richter verweigerte die Vernehmung weiterer Zeugen, weil er fand, das würde "den Prozess nur verzögern". Der Antrag auf Entlassung wurde schließlich mit der Begründung abgelehnt, dass Chodorkowski keine Reue zeige, denn er habe seine Taten nie gestanden. Außerdem ließe er den "Willen zur Besserung" vermissen, weil er noch keine Anstrengungen unternommen habe, einen vernünftigen Beruf zu erlernen.
Aber selbst wenn das Gericht dem Antrag stattgegeben hätte, wäre Chodorkowski kein freier Mann gewesen. Denn vor einigen Monaten leitete die Staatsanwaltschaft in Moskau ein neues Verfahren wegen Veruntreuung gegen ihn ein. Deshalb hätte man ihn so oder so in Untersuchungshaft behalten. Vor Verkündung der Entscheidung verlas der ehemalige Oligarch, dem von seinem Milliardenvermögen noch einige Hundert Millionen Euro geblieben sind, eine zehnminütige Erklärung: Mit ruhiger fester Stimme sagte er: "Ich habe es geschafft eine Ölfirma aufzubauen, die laut Statistik die größte Russlands war. Natürlich besteht die Frage, was ich tun werde, wenn ich in Freiheit entlassen werde. Ich werde bestimmt nicht ins Ölgeschäft zurückkehren, sondern mich um soziale Projekte kümmern."
Nun läuft die Uhr rückwärts
Als er den Saal verließ, tat er das wie früher schon mit demonstrativ erhobenem Haupt - wie um aller Welt zu zeigen, dass er sich nicht geschlagen geben wird. Auf der Website, die seine Anwälte mit allen Informationen über Chodorkowskis Schicksal eingerichtet haben, läuft eine Uhr rückwärts. Sie zeigt heute an, dass er nun noch 1158 Tage in Haft sitzen muss. Wenn nichts mehr dazwischen kommt - wogegen in Russland niemand wetten würde.