Minarette sind verboten? Kann schon sein. Trotzdem sprießen sie in der Schweiz derzeit wie Pilze aus dem Boden. Aus Holz, Pappe oder Papier, hergestellt in bester Schweizer Handarbeit. Ein kleines Gimmick hat die Grafikagentur Dirty Hands ins Netz gestellt: einen Bastelbogen zum Download. Damit kann sich jeder ein "Mini-Minarett" bauen. Für den Hausgebrauch. Und als stilles Zeichen des Protests gegen die Volksabstimmung, die den weiteren Bau von "echten" Minaretten untersagt. In den ersten drei Tagen nach der Abstimmung registrierte die Agentur 7000 Abrufe.
Manche belassen es bei den niedlichen Papptürmchen, andere bauen meterhohe Minarette mit einem Halbmond auf der Spitze. Diese Kunstwerke sind bei den "Mahnwachen" zu bestaunen, kleineren Menschenansammlungen, die seit der Abstimmung täglich in allen Landesteilen gegen das Verbot demonstrieren. Zehntausende Schweizer, die nicht vor die Tür gehen, solidarisieren sich in Leserbriefen, auf Facebook und in Blogs mit der Anti-Anti-Minarett-Bewegung. Sie schreiben, dass sie sich schämen Schweizer zu sein und sorgen sich um das Image des Landes. Aber es gibt auch die anderen, die sich eher radikalisieren, weitere Verbote fordern, die Muslime in der Schweiz nun erst recht verdrängen wollen. Die Boulevardzeitung "Blick" titelte am Freitag: "Minarett-Streit immer schlimmer. Zerreißt es die Schweiz?"
Die Schweiz als Archipel der politischen Neutralität
Der Streit trifft das Land in einer hoch empfindsamen Phase. Jahrzehntelang schien die Schweiz ein Archipel mitten in Europa zu sein, politisch neutral, von hohen Bergen geschützt, genährt von einer diskreten Finanzindustrie, eigen, aber tolerant. Dann brach 2008 und 2009 die Globalisierung mit nie gekannter Wucht ein. Die Amerikaner forderten die Aufweichung des Bankgeheimnisses, die Privatbank UBS schrieb plötzlich Milliardenverluste und in Libyen drohte ein ferner, zotteliger Diktator namens Muammar al-Gaddafi, er werde die Schweiz von der Landkarte radieren, weil es deren Behörden gewagt hatten, seinen Sohn zu verhaften. Soviel internationaler Krawall war neu für das beschauliche Helvetien, soviel wirtschaftliche Verunsicherung auch.
Und nun: die Minarette. Christophe Darbellay, Präsident der Christlichen Volkspartei (CVP) und eigentlich in der politischen Mitte angesiedelt, würde gerne noch ein paar Schritte weitergehen. Er forderte ein Verbot der Burka. Ein Verbot von Kopftüchern generell – katholische Nonnen natürlich ausgenommen. Und die speziellen Rituale einzelner Religionen bei Begräbnissen sollten auch gleich verschwinden. Nach heftigen Protesten musste sich Darbellay entschuldigen. In seinem Statement präzisierte er, dass er nicht vorgehabt habe bestehende Friedhöfe zu schließen (!), um das angestrebte Einheitsbegräbnis durchzusetzen. Selbst die Frauen in der Sozialdemokratischen Partei (SP) plädierten für ein Burka-Verbot – ungeachtet der Tatsache, dass verschleierte Frauen im schweizerischen Straßenbild in etwa so selten sind wie Kirchen in Saudi-Arabien.
Verzweifelt versucht die Schweizer Regierung die Wogen zu glätten, die vor allem bei den vormals hofierten Geschäftsfreunden in den muslimisch geprägten Ländern hoch schlagen. Fast täglich sind Erklärungen zu hören, die besänftigen sollen ohne die Abstimmung gänzlich in Frage zu stellen. Den Erzkonservativen ist selbst das zu viel, sie schimpfen über die "Entschuldigungs-Diplomatie". Roger Köppel, Chefredakteur der "Weltwoche", der zwischen 2004 und 2006 in Deutschland für Axel Springers "Welt" gearbeitet hatte, stellte in der Ausgabe vom vergangenen Donnerstag einen modernen Pranger auf: Auf der Titelseite zeigte er Politiker, Rechtsprofessoren sowie den Theologen Hans Küng und denunzierte sie als "Totengräber der Demokratie". Diese Menschen hatten es gewagt, daran zu zweifeln, dass das Minarett-Verbot überhaupt rechtlich durchsetzbar sei.
Einschränkung der Religionsfreiheit
Tatsächlich wurde darüber schon im Vorfeld der Abstimmung heftig gestritten. Die Schweizer Regierung wies darauf hin, dass das Volksbegehren die Religionsfreiheit der Muslime unzulässig einschränke und sowohl gegen die Europäische Menschenrechtskonvention als auch gegen den Uno-Pakt über die bürgerlichen und politischen Rechte verstoße. Dennoch verhinderte sie das Volksbegehren nicht, weil es nicht gegen "elementare Menschenrechte" verstoße – aber was darunter zu verstehen ist, wurde nie genau definiert.
Nun steht exakt diese Klärung an. Zuständig ist das Schweizer Bundesgericht in Lausanne. Wie es entscheidet, ist vollkommen offen. "Es gibt keinen Präzedenzfall, der Aufschluss geben könnte", sagt Helen Keller, Professorin für Völkerrecht an der Universität Zürich und Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen, zu stern.de.
Wie auch immer die juristische Beurteilung des Minarett-Verbots ausgehen mag: Die Schweizer fürchten sich weniger vor einer Entscheidung in Lausanne als vor einer Entscheidung in Straßburg. Dort sitzt nämlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Das Gefühl, dass nach der dröhnenden Kritik aus dem Ausland nun auch noch das Ausland über die Schweiz zu Gericht sitzt – zu viel der Demütigung, zu viel der Globalisierung.
Die Schweiz will für sich sein und kann es nicht mehr. Unsicher torkelt sie in eine neue politische Zukunft. Das Minarett-Verbot wird nicht der letzte Stolperstein sein.