Zwei Patrouillen pro Tag, Hitze und Staub, wenig Schlaf, Taliban-Hinterhalte und Sprengfallen bestimmen das Leben der US Marines im Afghanistan-Einsatz. Die meisten sind erst Anfang zwanzig, aber viele sind schon verheiratet und haben kleine Kinder zu Hause, die sie in den sieben Monaten nur über Skype aufwachsen sehen können. Corporal Willis, stellvertretender Gruppenführer in einem Außenposten, ist einer von ihnen. Gestern kam der 23-Jährige in unser Camp, um mit seiner Frau zu telefonieren. Sie bekam am Vortag ihr zweites Baby, und er war zwei Stunden in der Internet-Barracke. "Das ist mein Job, und meine Frau ist stolz auf mich", antwortet er kühl auf meine einfallslose Frage nach seinem Befinden und dreht sich weg. Es war offensichtlich, dass er sich zusammennahm.
Wofür das alles? Welche Perspektive gibt es? Und sind die Ziele, die die Nato den Koalitionstruppen vorgibt, überhaupt zu erreichen? Die Marines von Patrol Base May arbeiten schwer und riskieren viel, um ihre zwei Kernaufgaben zu erfüllen. Die erste ist die "Herstellung eines sicheren Umfeldes", wie es deutsche Verteidigungsbeamte nüchtern ausdrücken. Die Marines nennen es Krieg. Taliban festnehmen oder töten. Sprengfallen finden und entschärfen. Die Afghanen mit Hilfsprojekten gewogen machen und so von den Aufständischen trennen. Counter Insurgency - Aufstandsbekämpfung, die wohl komplizierteste aller Kriegsarten.
Die zweite Aufgabe erscheint auf den ersten Blick einfacher: Die Ausbildung der afghanischen Nationalarmee. Sie ist es, die mit Unterstützung der Polizei die Stabilität im Land wahren soll, wenn die internationalen Truppen abziehen. Dafür ist das Jahr 2014 angepeilt. Partnering heißt das Zauberwort. Die Afghanen werden während des Einsatzes trainiert. In einem Außenposten der Bundeswehr hat diese Strategie vorvergangene Woche drei deutsche Soldaten das Leben gekostet. Auch in der Patrol Base May sind sechs Männer der ANA, der afghanischen Armee, stationiert. Sie kommen alle nicht aus der Region, und das hat seinen Grund. Die meisten Afghanen fühlen sich ihren Stämmen weitaus mehr verbunden als dem Zentralstaat. Ein Einsatz gegen die Interessen des eigenen Clans wäre damit fast unmöglich. Das Wort "national" hat am Hindukusch kaum eine Bedeutung.
Disziplin - ein Fremdwort
Seargent Abdul Maruf, der Vorgesetzte des Grüppchens, stammt aus dem nordafghanischen Feyzabad. Seine Untergebenen aus Kunar, Kabul, Jalalabad und Kunduz. Disziplin ist bei vielen eine Fremdwort - nicht nur aufgrund der fehlenden nationalen Bindung. "40 bis 50 Prozent der ANA-Soldaten kehren nicht mehr aus dem Heimaturlaub zurück. Entweder tauchen sie gar nicht mehr auf, oder sie schicken einen Verwandten, der dann wieder neu ausgebildet werden muss", erklärt mir Major Tenney, der stellvertretende Bataillonskommandeur. Auch in der Patrol Base May kam es schon häufiger zu Personalwechseln. Es sei dennoch ein Fortschritt in der Ausbildung zu erkennen, ist die einhellige Aussage der US-Soldaten. Die geplante "Übergabe in Verantwortung" ist dennoch eine Schimäre. Am späten Nachmittag bricht erneut eine Patrouille auf. Acht Marines und drei Soldaten der ANA. Unteroffizier Timmens führt sie an. Ziel ist die Ortschaft Haji Wakil, sechs Kilometer südwestlich vom Stützpunkt. Ein "Taliban-infiltriertes Nest", sagt der 24-Jährige aus Illinois. "In diesem Dorf kannst du niemandem trauen. Vordergründig geben sich die Bewohner freundlich, aber sobald wir wieder weg sind, vergraben sie Sprengfallen und planen Hinterhalte." Die Aufklärung hat gemeldet, dass sich ein örtlicher Anführer der Aufständischen dort aufhält. "Wir gehen hin und schauen nach, ob er tatsächlich da ist. Wenn wir ihn finden, holen wir ihn uns", sagt Timmens und zeigt mir eine Art Steckbrief des Gesuchten. Dann gibt er das Zeichen zum Abmarsch.
Nach zwei Stunden erreichen wir den Rand des Dorfes. Kinder huschen über die Straße, Hunde schlagen an. Die Marines sind konzentriert, achten penibel auf die Sicherheitsabstände zwischen ihnen. Die Soldaten der ANA trotten lustlos hinterher. Immer wieder muss Unteroffizier Timmens die Afghanen zur Disziplin ermahnen. Schon im Stützpunkt gab es Diskussionen, ob sie ihre Ausrüstung mitnehmen oder nicht. "Meine Männer sind müde", lässt Seargent Maruf den Dolmetscher übersetzen. "Sag‘ ihm, dass meine Männer auch müde sind, und wenn er seine Sachen nicht mitnehmen will, ruf ich seinen Kommandanten an", entgegnet Timmens nüchtern. Er hat diese Diskussion satt.
Wir erreichen den Dorfkern. Unter einem Vordach sitzt eine Gruppe Männer und Halbwüchsiger und trinkt Tee. Einige halten Gebetsketten in ihren Händen. Sie stoppen ihre Unterhaltung und warten ab. Timmens lässt seine Männer die Umgebung sichern und geht auf die Afghanen zu. Er zeigt ihnen das Fahndungsprofil des vermuteten Taliban. Doch es ist immer wieder das gleiche Spiel. Keiner hat etwas gesehen, keiner weiß etwas.
Marc Lindemann
Er war Nachrichtenoffizier, ist studierter Politologe und vor allem ausgewiesener Afghanistan-Fachmann. Kürzlich erschien Marc Lindemanns Buch "Unter Beschuss - Warum Deutschland in Afghanistan scheitert", in dem er mit dem Einsatz am Hindukusch abrechnet. Derzeit ist der 32-Jährige mit den US Marines als Berichterstatter in Afghanistan unterwegs. In mehreren Folgen schreibt er für stern.de von dem harten Alltag der Truppen.
Es fängt bereits an zu dämmern, als der Gruppenführer sich entschließt, ins Lager zurückzukehren. "Heute können wir nichts mehr tun. Was sollen wir machen? Jedes Haus durchsuchen? Wenn die Bevölkerung nicht kooperieren will, haben wir so gut wie keine Chance."
Die Marines und die Soldaten der ANA - ein Unterschied wie Tag und Nacht. Es gibt zwar Fortschritte bei den afghanischen Kameraden - aber auf niedrigem Niveau. Es ist wie bei einem unbegabten Grundschüler, der nur Fünfen und Sechsen schreibt und zwischendurch mal mit einer Drei nach Hause kommt. Dass er das Gymnasium schafft, ist dennoch ausgeschlossen.
Für das, was die afghanische Nationalarmee nach dem Abzug der Nato erwartet, wird pädagogische Behutsamkeit und Schönfärberei nicht genügen. Die hochgerüsteten, motivierten und über Jahrzehnte geformten Armeen des Westens sind bis heute nicht in der Lage, Afghanistan zu stabilisieren. Wie soll das einer Truppe gelingen, die schon an den einfachsten Standards scheitert? "Die Disziplin ist das größte Problem", sagt Captain Hagel, der Kompaniechef. "Die ANA-Jungs weigern sich oft, mit auf Patrouille zu gehen, wenn es ihnen zu früh ist. Wir können ihnen das nicht befehlen wie einem unserer Soldaten. Ihre Ehre ist schnell verletzt. Wir müssen dann ihren Kommandeur anrufen, dass der ihnen Druck macht. Es braucht einfach noch viel mehr Zeit."
Die infantilen Kameraden
Am Abend bin ich bei den afghanischen Soldaten zum Essen eingeladen. Es gibt Huhn auf Safranreis. Ich kenne diese Abende bereits aus meinen eigenen Einsätzen in Kundus. Man versichert sich gegenseitig eine Art völkische Verbundenheit zwischen Deutschland und Afghanistan. Man lobt das Essen mehrfach und überschwänglich. Orientalisches Palaver rauf und runter. Nach dem Essen spielen wir eine vereinfachte Version von Mau-Mau. Die Männer freuen sich diebisch, wenn sie mir in die Karten schielen. Kichern und feixen dabei wie kleine Kinder.
Ich sei ein guter Mann, sagen die Männer, weil ich meine Zigaretten mit ihnen teile. Und dass Sie mich in Deutschland besuchen wollen. "Mal sehen", antworte ich. "Vielleicht irgendwann." Was soll ich auch sonst sagen? Dass ein Flugticket mehr kostet, als sie in einem Jahr verdienen? Dass sie sich in unserer Welt nicht einen Tag zurechtfinden würden? Und obendrauf, dass eine etwaige gemeinsame Abstammung niemanden in Deutschland interessiert und die große Masse der Ausländer nur mit Spitzengehältern, Extraurlaub und den höchsten Gefahrenzulagen nach Kabul zu locken ist? Es sind nette Burschen, und ich bin Gast in ihrem Zelt. Sie geben mir das beste Stück Fleisch, und ich bin nicht gekommen, um sie zu kränken.
Morgen führen die Soldaten der ANA eine Patrouille an, mit Achmed Zay an der Spitze. Er wird den Weg nach Sprengfallen absuchen. Die Marines werden folgen und nur "beratend" zur Seite stehen. "Mach dir keine Sorgen", sagt Hauptgefreiter Cerezo. "Ich nehme meinen Minendetektor ja auch mit."