Die Moskauer Schülerin Olga glaubte zunächst, das Krachen eines umgestürzten Baugerüsts zu hören. "Meine Freundin und ich liefen aus Neugier zum Hotel National", berichtete die 15-Jährige. "Die Scheiben waren zersplittert. Ein toter Mann lag mit dem Gesicht auf dem Asphalt." Erst da begriffen die Mädchen, dass soeben in ihrer Nähe ein Bombenanschlag verübt worden war. Die Explosion war der dritte schwere Terrorakt in Moskau innerhalb von 15 Monaten.
Die tödliche Detonation in unmittelbarer Nähe zu Kreml, Rotem Platz und Parlament holt die Staatsführung nach dem fulminanten Sieg bei der Parlamentswahl auf den Boden der Tatsachen zurück. Im Wahlkampf war das Thema Tschetschenien totgeschwiegen worden. Der jüngste Terroranschlag mitten im Moskau brachte selbst glühendsten Patrioten in Erinnerung, dass das im Wahlkampf beschworene "starke, unbezwingbare Vaterland" bis heute seinen blutigsten Konflikt im Innern nicht gelöst hat.
Terror zu jeder Zeit möglich
Der Terroranschlag trägt die Handschrift von Schamil Bassajew. Der in den Bergen des Kaukasus versteckte Rebellenführer hat der russischen Führung gedroht, den Tschetschenienkrieg bis nach Moskau zu tragen. Obwohl im Stadtzentrum zehntausende Polizisten und Geheimdienstkräfte Straßen, U-Bahn-Stationen und Plätze kontrollieren, wagten sich Terroristen dieses Mal bis fast an die Mauern des Kremls heran. Die Sprache dieser Bluttat ist für die Menschen in Moskau nur allzu verständlich: Entgegen aller Beteuerungen der Staatsmacht scheint der blutige Terror an jedem Ort und zu jeder Zeit möglich.
Den Besuchern im feinen Speisesaal des Fünf-Sterne-Hotels bot sich ein Bild des Grauens. Auf der Straße lagen mehrere Leichen. Bis zum Eintreffen von Polizei und Rettungskräften bargen Wachleute des Hotels verletzte Passanten. Auch im Hotel wurden einige Menschen durch die zersplitternden Fenster verletzt.
Typisch für das neureiche Russland
Der Tatort ist typisch für das neureiche, exklusive und moderne Russland. Das Luxushotel "National" zählt zu den teuersten Unterkünften in Moskau mit Zimmerpreisen von 250 bis 1300 Euro pro Nacht. Gleich über die Straße lädt ein pompöses, mehrstöckiges Einkaufsparadies unter dem Manege-Platz zum Shopping in Edelboutiquen ein. Die archaische Gewalt des seit zehn Jahren andauernden Tschetschenienkonflikts mit Morden, Entführungen und Vergewaltigungen schien bis Dienstag nicht nur hunderte Kilometer, sondern auch hunderte Jahre von diesem Ort entfernt zu sein.