Afghanistan ist eines der ärmsten Länder, gebeutelt von Dekaden des Kriegs und der Ausbeutung, geschunden von Warlords und Drogenbaronen, verrottet unter allgegenwärtiger Korruption und Nepotismus, gefährdet durch die Zunahme terroristischer Anschläge an Zahl, Wirkung und Professionalismus, die das Jahr 2008 zum blutigsten Jahr seit der Niederschlagung der Taliban werden lies. Afghanistans mächtige Gegner hatten über Jahre Gelegenheit, sich in den afghanisch-pakistanischen Grenzgebieten ungestört, geduldet, vielleicht sogar still unterstützt zu restrukturieren, rekrutieren und refinanzieren. Anwerbung und Ausbildung findet weltweit statt, Experten schätzen die Zahl der Terror-Camps allein im Grenzgebiet auf bis zu 1500.
Nato-Strategie kostete Sympathien
Viel zu viele Jahre wurden beim Aufbau des Landes vertan. Jahre, die zu sehr dem "War on terror" statt dem Wiederaufbau gewidmet waren. Jahre, die zu einer zunehmend uneinheitlichen Strategie der Nato-Verbündeten führten; Jahre, in denen das Nord-Süd-Gefälle weiter auseinanderdrifte; Jahre, in denen nicht nur die Gegner mächtiger wurden, sondern auch der Rückhalt ausländischen Truppen in der Bevölkerung schwand.
Wie die letzten Umfragen von Ende 2007 zeigten, sehen jeweils rund 30 Prozent der Afghanen in ihren Regionen die größten Probleme bei der Sicherstellung der Stromversorgung und dem (Wieder-)Aufbau der Wirtschaft, gefolgt von Infrastruktur und Straßenbau (ca. 20 Prozent. An vierter Stelle steht die Erziehung (seit 2005 leider von rund 30 auf 16 Prozent gefallen) und erst auf Platz fünf steht die innere Sicherheit (Anstieg von 8 auf 16 Prozent). Diese Erkenntnisse, im Detail nachzulesen im aktuellen "Afghanistan Index", sprechen für sich: Afghanen wollen eigentlich das Gleiche wie jeder deutsche Bundesbürger: Arbeit, Wirtschaft, Infrastruktur, Bildung, Sicherheit.
"Vollständige Fehleinschätzung der Lage"
Die afghanische Bevölkerung hat 2001 in den Alliierten Freunde und Befreier gesehen, und diese selbstbewusst und warmherzig empfangen. Taliban und al Kaida waren ihnen nach Jahren der Unterdrückung verhasst, die Nato-Kräfte, selbst Einheiten der Operation Enduring Freedom (OEF), hatten von Anfang an ihre Herzen gewonnen und hätten mit diesem Pfund sorgsamer umgehen müssen. Stattdessen wurde in vollständiger Fehleinschätzung der Lage selbst führenden Talibankämpfern der Ausflug nach Pakistan ermöglicht, bis zu 6000 konnten sich 2001 unangetastet zurückziehen. Der Wiederaufbau wurde auf Kabul und Umgebung konzentriert, der Aufbau der Wirtschaft vernachlässigt, der Korruption wurde nicht entschieden genug Einhalt geboten, die enge Zusammenarbeit mit Pakistan sträflich vernachlässigt und insgesamt mit absolut ungenügenden Einsatz- und Finanzmitteln eine eher halbherzige Aufbauhilfe geleistet, die zudem noch nach kurzer Zeit durch den Irakkrieg geteilt werden musste.
Zur Person
Uwe Kranz, 62, ist leitender Ministerialrat a.D. und arbeitet aktuell als internationaler Sicherheitsberater unter anderem für den Europarat, die Polizeimission zur Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft für Albanien und das Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit. Als Projektleiter bei Europol beschäftigte er sich unter anderem mit der Bekämpfung organisierter Kriminalität. Kranz gilt als Experte in Sachen Afghanistan, Terrorismus, internationale Polizeizusammenarbeit. Er ist Mitglied der Akademie für Europäisches Recht in Trier.
Parteipolitisch und ideologisch überfrachtet
Die Liste der Fehlleistungen ist lang. Dazu zählen neben der schon fast grotesken Trennung von Isaf- und OEF-Komponenten und den deutschen "Verrenkungen" zur Begründung des Einsatzes der beiden Aufklärungs-Tornados, die im "targeting-process" der Nato von größter Bedeutung sind, auch die transatlantischen - und wohl auch innereuropäischen - Differenzen in der Polizeiausbildung. Ebenso misslich waren die parteipolitisch-ideologisch überfrachteten Diskussionen um die Mandatsverlängerungen und die gesteuerte (Des-) Informationspolitik. Zumindest ungenügende Beachtung fand die Kultur Afghanistans bei den Einsätzen, die unvertretbar hohe Zahl getöteter und verletzter Zivilisten bei Nato-Luftangriffen, die von manchen Beobachtern als Umsetzung der "General-Warden-Doktrin" bezeichnet wird. Verheerend wirkten sich schließlich auch die Drogenpolitik und Guantanamo aus. Die Liste der "lessons learned", der Versäumnisse, ist lang und könnte leicht verlängert werden.
"Jeder neue Brunnen ist ein Sieg"
Was ist also zu tun? Wichtig ist, dass die Zäsur, die uns das "neue Amerika" beschert, auch genutzt wird. Wir brauchen in Sachen Afghanistan eine Neuorientierung, einen umfassenderen Ansatz statt eines Terror-Managements, ja, auch eine Exit-Strategie. Die Nato muss die gelernten Lektionen jetzt auch umsetzen: In eine stärkere militärische Absicherung der Aufbaukräfte und -projekte, in Schulbau und Sicherung des Schulbesuchs, in Straßenbau und Infrastruktur und ihre Sicherung. Denn jede Straße vom Feld zum Marktplatz, jeder Brunnen, jede Schule ist ein Sieg. Sie muss Sicherheit in den Bereichen Energie, Verwaltung und Information gewährleisten und die rigorose Bekämpfung der Korruption auf allen Ebenen angehen.
Schwerpunkte sind auf Provinz- und Distriktsebene zu setzen, der Aufbau lokaler Milizen unter der Führung der Clanführer, die wiederum direkt Kabul unterstellt sind, muss forciert werden. 200 Mann je Distrikt kosteten gerade mal ‚läppische fünf Million US-Dollar. Pragmatische Projekte, wie der Dialog mit den Treffen der Clanführer, den sogenannten Shura-Räten, und den gemäßigten Taliban, müssen Nato-einheitlich vorangetrieben werden, statt sie auf nationalen oder ideologischen Altären zu opfern.
"Klotzen statt kleckern"
Die Nato sollte jetzt "klotzen statt kleckern", die Formel für den Erfolg lautet "zehn Soldaten und Polizisten auf 1000 Einwohner". Zu den 4000 US-Militärausbildern sollte die EU zumindest auch 4000 Ingenieure, Mentoren und Ausbilder für Polizei, Verwaltung, Straßenbau, Wirtschaft, Wasser- und Stromversorgung stellen.
Sicher: Deutschland ist auch am Hindukusch zu verteidigen. Aber es steht mehr auf dem Spiel, denn der islamistische Terrorismus bedroht längst die ganze Welt, auch Russland, Afrika und Asien. Darauf muss sich die Nato in ihren Beratungen einstellen.