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Niederlande/Gesundheitssystem Streng und gut

Alternde Gesellschaft, steigende Kosten: Eigentlich haben die Niederlande die gleichen Probleme wie wir. Aber das Gesundheitssystem funktioniert. Die Lösung: rigorose Kontrolle und Wettbewerb.

Wunder können manchmal ganz schön banal sein. Die halbe Welt beneidet die Holländer um ihr Gesundheitssystem. Doch wer nach dem Erfolgsgeheimnis sucht, der findet es nicht in irgendeiner Super-Spezialklinik und auch nicht auf den Fluren des Gesundheitsministeriums in Den Haag. Sondern eher bei Menschen wie Rien Brouwer. Sie sind die Helden des niederländischen Gesundheitswunders.

Brouwer ist Hausarzt in der Kleinstadt Renkum bei Arnheim. Will ein Patient ein Medikament gegen Bluthochdruck, sagt er: "Sie müssen mehr Sport treiben" und schickt ihn wieder nach Hause - ohne Rezept. Noch schlichter ist sein Rat bei Kopfschmerzen oder Erkältungen: "Schlafen Sie mal richtig aus. Dann sehen wir weiter."

Holz statt Chrom

Chromblitzend ist die anständige deutsche Arztpraxis - Brouwer, ein gemütlicher Endvierziger mit Schnauzbart, praktiziert lieber an einem alten Holztisch, der so aussieht, als habe er daran schon Examen gemacht. Sein Behandlungszimmer misst vier mal vier Meter.

Einfachheit, das ist das Erste, was man lernt, wenn man in dieses Land kommt, Einfachheit kann funktionieren! Deutsche Ärzte erhalten für jeden Handgriff Punkte, die sie bei der Kasse einreichen. Wer mehr Punkte hat, bekommt mehr Geld - also sammeln alle wie blöde Punkte und fummeln mit medizinischem Schnickschnack ewig an ihren Patienten rum. Brouwer dagegen ist nicht zuständig für Patienten, sondern für Menschen - alle, die in der Nähe wohnen, 2700 insgesamt. Für jeden bekommt der Doktor von der Krankenkasse pauschal 76,20 Euro pro Jahr - egal ob er gar nicht, einmal oder zehnmal in die Praxis kommt.

Zwei Ziele

Der Hausarzt hat daher zwei Ziele. Erstens: Die Menschen sollen gar nicht kommen. Und zweitens: Wenn sie kommen, sollen sie so schnell wie möglich wieder verschwinden. Also versucht Brouwer, alle so schnell und billig wie möglich gesund zu machen. Er vermeidet Röntgen oder Bluttests. Und nicht mal die Hälfte seiner Patienten bekommt ein Rezept. Ernste Beschwerden werden ernst genommen. "Oft reicht aber Schlafen und Abwarten", meint der Doktor. "Dann verschwinden viele Beschwerden von allein."

Glückliches Holland! Der gesunde Menschenverstand scheint hier noch eine Heimat zu haben, anders als bei uns. Wir geben pro Jahr 10,7 Prozent unseres Inlandsproduktes für Gesundheit aus - 8,9 reichen den Holländern. 19,6 Krankenhauseinweisungen auf 1000 Einwohner zählen die Statistiker in Deutschland - 9,2 bei unseren Nachbarn. Aber die leben nicht schlechter als wir, im Gegenteil: 1980 war die Sterblichkeit bei Herzinfarkt in beiden Ländern noch gleich groß - heute ist sie in Holland um 25 Prozent niedriger als bei uns. In puncto Lebenserwartung liegt das kleine Land an der Weltspitze.

Gibt es eine Alternative? Könnte ein solidarisch organisiertes Gesundheitssystem in einer schnell alternden Gesellschaft so aussehen wie in den Niederlanden?

"In Deutschland bekommen wir für das Geld der Beitragszahler nicht den optimalen Gegenwert", sagt der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach, Berater von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD). "Wir bezahlen für einen Mercedes, kriegen aber nur einen Golf. Insofern sollten wir bei unseren Nachbarn abgucken, auch bei den Holländern."

Zaghafte Neuerungen

Lauterbach hat mitgewirkt an der Reform, mit der Ulla Schmidt unser krankes System sanieren will. Aber viel von Holland ist nicht drin in dieser Reform: einige zaghafte Neuerungen, ansonsten Geldbeschaffung bei Patienten und Versicherten. Das wird uns nur eine Atempause verschaffen.

Heißt von Holland lernen siegen lernen? Eines ist klar: Wer von Freiheit träumt, von Selbstbestimmung und unbeschränktem Wettbewerb, der ist dort falsch - das merkt jeder, der sich nur ein paar Tage durch dieses Land bewegt, das seine Straßen so unerbittlich mit "Drempels" (Buckeln) verkehrsberuhigt. Privatkliniken waren bis vor kurzem verboten. Dass Männer und Frauen im Krankenhaus oft auf einem Zimmer liegen, gilt als normal.

Nicht Abriss des Sozialstaates ist hier das Ziel, sondern seine Leistungssteigerung. Der deutsche Ärztekult mit all seiner ehrpusseligen Standestümelei ist unbekannt - aber auch die Luxushaltung von Patienten, die zehn Fachärzte ausprobieren. Es gibt strenge Regeln. Wer sich an sie nicht hält, wird unsanft zur Räson gebracht - durchgedrempelt sozusagen.

"Poortwachter" vor dem medizinischen Schlaraffenland

Mit seinem Hausarzt zum Beispiel sollte man sich gut stellen. Er ist der "Poortwachter" - der Türwächter, der breitbeinig vor dem medizinischen Schlaraffenland steht und unerbittlich nach Kosten und medizinischen Notwendigkeiten fragt. Jeder Holländer ist bei einem Hausarzt fest "eingeschrieben" - Wechsel sind nur mit Einwilligung der Krankenkasse möglich. Der direkte Weg zum Facharzt ist verboten. Teure Mehrfachuntersuchungen unterbleiben so, der Hausarzt ist außerdem über alle externen Behandlungen "seines" Patienten informiert und muss nicht immer wieder von vorn anfangen.

Regeln auch beim Pillenkauf: Man rennt nicht zu irgendeiner x-beliebigen Apotheke, sondern entscheidet sich für eine, wo man sich ebenfalls "einschreibt". Alle Medikamentenabgaben werden dort im Computer gespeichert, die "Pillenkarriere" jedes Kunden ist so jederzeit abrufbar. Bei Verdacht auf Wechselwirkungen oder Doppelverordnungen schlägt der Apotheker Alarm - und ruft den Hausarzt an. Jedes dritte Rezept wird per Rückruf kontrolliert. Das lohnt sich: Die Holländer geben pro Jahr und Kopf 240 Euro für Arzneimittel aus - die Deutschen 341. "Die Deutschen schlucken sich zu Tode", höhnt die Präsidentin des "Königlich-niederländischen Pharmazeutenverbandes", Carolin de Roos.

Pillenschlucken gilt in den Niederlanden nicht als Beleg für die Modernität eines Gesundheitssystems - eher als Beweis für sein Versagen. Es gilt die Philosophie der "ersten Linie": Danach sollen alle Krankheiten von einem tief gestaffelten Präventionssystem so früh wie möglich abgefangen werden - bevor es teuer wird. Die Gesundheitsbehörden lassen daher niemanden aus den Augen - von der Wiege bis zur Bahre. Alle Kinder und Jugendlichen vom ersten bis zum 19. Lebensjahr müssen regelmäßig zur Gesundheitskontrolle. Und Jahr für Jahr werden alle Einwohner über 65 auf Staatskosten gegen Grippe geimpft.

Vorbildliches Vorsorgeprogramm

Als vorbildlich gilt auch das Vorsorgeprogramm gegen Brustkrebs. Flächendeckend bekommen alle Frauen über 50 alle zwei Jahre eine amtliche Aufforderung zur Mammografie. Das ist zwar nur eine "Einladung" - aber mitzumachen gilt als "freiwillige Pflicht". Was auf holländisch heißt: Nicht zu kommen wäre unsozial. Also kommen fast alle.

Dafür wird die Teilnahme "laagdrempelig" gemacht: "niedrigschwellig" - ein typisches Zauberwort holländischer Gesundheitspolitik. 40 weiße Busse mit der Aufschrift "bevolkingsondezoek" (Bevölkerungsuntersuchung) durchkämmen permanent das ganze Land und halten vor Rathäusern oder Sporthallen. Die Mammografien gehen per Kurier zur Auswertung in Spezialkliniken. Das entlastet Arztpraxen und reduziert Diagnosefehler. Seit Einführung der landesweiten Vorsorge ist die Sterblichkeit bei Brustkrebs um 20 Prozent gesunken. 800 000 Frauen werden jedes Jahr durchs "Mammobil" geschleust.

Ist das Sozialismus? Der Gedanke muss einem kommen, wenn man durch Hollands Kliniken und Arztpraxen reist. Überall ist der Staat dabei, auf alles und jedes drückt er den Kostendeckel. Die Zahl der Medizinstudenten ist begrenzt, die der Krankenhäuser wurde durch Zwangsfusionen drastisch gesenkt. Die Anschaffung von medizinischen Großgeräten muss das Gesundheitsministerium genehmigen. Eine "Positivliste" legt fest, welche Medikamente die Kassen erstatten - homöopathische Mittelchen haben keine Chance.

Eigeninitiative, Innovation und Wettbewerb

Und über allem schweben Institutionen wie die staatliche "Inspektion für das Gesundheitswesen". Um die Behandlungsverfahren zu optimieren, werden sogar Sprechstunden per Videokamera gefilmt. Wenn Gesundheit schon von der Gemeinschaft bezahlt wird, so das Prinzip, dann kann sie nicht Privatsache sein. Das ist die eine Seite des holländischen Modells - fürsorglicher Sozialismus von oben. Aber es gibt auch die andere Seite: Eigeninitiative, Innovation, Wettbewerb.

Beispiel Kindstod. Von 100 000 Neugeborenen starben im Jahr 2000 bei uns 78 an dem unheimlichen Atemstillstand in den ersten Monaten. In den Niederlanden waren es nur 14. Verantwortlich dafür ist die Stiftung "Wiegendood" unter der Leitung des Journalisten Reinier Hopmans, die Hunderttausende Aufklärungsbroschüren mit Verhaltensregeln an Eltern verteilt - auch in Türkisch und Arabisch.

Säuglingsbüros, Hebammenvereinigungen und sogar die Hersteller von Kinderbetten machen mit. "Die Holländer sind da besser als wir, und das schon seit Jahren", stellt der Hamburger Kinderneurologe Henning Wulbrand neidvoll fest.

Besser und einfallsreicher

Sie sind besser - und einfallsreicher. Zwischen Gewächshäusern mit Blumen und Tomaten residiert James Burton und baut Marihuana an. Schon seit Jahren verkauft der aus den USA eingewanderte Vietnam-Veteran seine Haschischpräparate an Stammkunden. Denen helfen die Cannabis-Pillen bei Migräne, Asthma, Aids und Multipler Sklerose. Bisher wurde das nur toleriert. Künftig soll Burton aber Apotheken und Krankenhäuser ganz offiziell beliefern - in öffentlichem Auftrag. Die Staatssekretärin für "Volksgesundheit, Wohlbefinden und Sport" ist von der Cannabis-Therapie so angetan, dass sie diese Woche eine erste Marihuanapflanze feierlich an eine Multiple-Sklerose-Initiative übergeben wird. Burton freut sich: "Ich bin der erste staatlich anerkannte Dealer der Welt."

Wenn in Holland die Gesundheitspolitiker der Meinung sind, dass mehr Markt mehr Effizienz bringt - dann setzen sie auf Wettbewerb. Seit 1994 können Krankenkassen sich in Holland die besten Ärzte rauspicken und mit ihnen Einzelverträge schließen - in Deutschland nach wie vor unmöglich. "Regulierter Wettbewerb" heißt das bei unseren Nachbarn, und das ist einer dieser Doppelbegriffe, mit denen die Holländer für deutsche Ohren Unvereinbares so locker zusammenbringen.

Geradezu kapitalistisch mutet der Apothekenmarkt an - bei uns immer noch fest in der Hand der einschlägigen Verbandsmafia. Landesweit richtet Hollands größter Handelskonzern Ahold in seiner Drogeriekette "Etos" Apotheken ein. "Etos" will seine Einkaufsmacht nutzen und Gewinnspannen, die bisher Pharmakonzerne und Apotheker einsteckten, an die Kunden weitergeben. Medikamente können so bis zu 80 Prozent billiger sein.

Gut für Kunden und Kassen, schlecht für Industrie und Apotheker

Gut für "Etos", denn die Kunden werden in die eigenen Läden gelockt. Gut auch für die Krankenkassen, die ihre Budgets schonen. Schlecht für Industrie und Apotheker. Mitleid hat "Etos"-Manager Jos Jongstra nicht: "Die Pharmariesen haben lange gut verdient. Und die Apotheker kommen bei uns ja auf die Lohnliste."

Erst wenn man mit Leuten wie Jongstra redet, fällt einem auf, wie kuschelig es in unserem Deutschland eigentlich immer noch ist. Keiner muss sich was sagen lassen, alle haben ihr Auskommen. "Die Kasse" zahlt ja fast alles. Unser System ist gemütlich. Aber es ruiniert uns.

Durchrationalisierter Sozialstaat

Durch Holland dagegen weht der eisige Wind eines durchrationalisierten Sozialstaates. Der ist kühl und effizient, klar geregelt und bezahlbar. Aber auch - unsentimental: die einstmals stolzen Apotheker als Gehaltsempfänger. Ärzte als Staatsmediziner. Patienten als Kostenfaktoren. Das müssten unsere Politiker uns sagen, wenn sie von Holland abgucken wollen. So viel Mut müssten sie haben.

Dann wäre der Weg frei für Lösungen, wie die Holländer sie bei der Pflege gefunden haben. 16 Helferinnen beschäftigt der schwer behinderte Wim Spijker, 62, in seiner Wohnung in Bladel bei Eindhoven. Die Pflegekasse überweist dem Rollstuhlfahrer monatlich 7500 Euro - und er sucht sich seine Hilfskräfte selbst aus. Wann die Köchin oder die Putzfrau kommt - all das bestimmt Spijker selbst. Kommt er mit dem Personal nicht klar, kann er auch entlassen. Einzige Bedingung: Das Ganze darf nicht teurer sein als eine Unterbringung im Heim. Ist es auch nicht, sondern aufs Jahr 20 000 Euro billiger. Und Spijker genießt seine Unabhängigkeit: "Hier in meiner Wohnung bin ich der Boss."

50 000 Niederländer bekommen ein solches Pflegebudget. In Deutschland ist die Idee bisher gerade mal in den Abschlussbericht des Reformbeauftragten Bert Rürup vorgedrungen.

Im Würgegriff von Verbänden

Warum geht bei unseren Nachbarn alles schneller? Warum probieren sie aus, was wir nur in Kommissionspapiere schreiben? Vielleicht liegt das auch an den Verbänden, die unser Land im Würgegriff halten. Auch Holland ist ein Verbändestaat. Aber Ärzte- und Apothekerorganisationen sehen sich nicht als politische Kampftrupps - sondern als Fachkollegien, die Gesundheitspolitik unterstützen und korrigieren. Bei der Ausarbeitung von Behandlungsleitlinien, für deutsche Ärzte Inbegriff "staatlicher Gängelei", hat der Hausarztverband sogar mitgemacht.

Das ist der Unterschied. Und das macht die Sache für uns so schwierig. Wenn wir den Umgang mit Gesundheit, Krankheit und Älterwerden organisieren wollen wie die Holländer, dann reicht es nicht, wenn wir ihre Ideen importieren. Dann müssen wir auch ein Stück von ihrer Mentalität importieren.

"Reform ist bei uns immer"

Noch wirkt Deutschland auf unsere Nachbarn wie in Beton gegossen: Keiner bewegt sich, keiner redet mit keinem. Seit Jahren trifft der Gesundheitsforscher Richard Grol aus Nimwegen auf Kongressen in Deutschland "dieselben Leute, die sich immer dieselben Positionen um die Ohren hauen". Und noch etwas irritiert den Holländer: "Bei euch geht es immer gleich ums große Ganze. Alle suchen nach der großen Reform. Wir machen das anders. Reform ist bei uns immer."

Tilman Gerwien und Albert Eikenaar print

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