In den USA sind im Schuljahr 2021/2022 einer Studie zufolge mehr als 1.600 Buchtitel in Lehrstätten verboten worden. Aus lokalen, auf Schulebene begrenzten Aktionen zur Anfechtung und Entfernung von Büchern sei im Laufe des Schuljahres eine umfassende soziale und politische Bewegung geworden, die von regionalen, bundesstaatlichen und nationalen Gruppen getragen werde, berichtet Pen America, ein gemeinnütziger Autorenverband, der sich für freie Meinungsäußerung in der Literatur einsetzt. Die überwiegende Mehrheit der Bücher, die von diesen Gruppen ins Visier genommen würden, enthielten Charaktere, die der LGBTQ+-Gemeinschaft angehörten oder People of Color – also nicht-weiße Menschen – seien und/oder Rasse und Rassismus in der amerikanischen Geschichte, LGBTQ+-Identitäten oder Sexualkunde thematisierten.
Pen America sieht ideologische Kampagne hinter Bücherverboten
Die jüngsten Bemühungen, Bücher zu verbieten, seien eine koordinierte Kampagne, die vor allem von einer kleinen Anzahl gut ausgestatteter konservativer Interessengruppen angeführt werde, sagte Pen-America-Geschäftsführerin Suzanne Nossel dem US-Sender NBC News zufolge auf einer Pressekonferenz. Diese ideologisch motivierten Gruppen seien der Meinung, dass Eltern nicht genug Kontrolle darüber hätten, was ihre Kinder lernen. Sie argumentierten, dass es Sache der Eltern sein sollte, zu entscheiden, welche Bücher ihren Kindern zugänglich sind, und dass sie versuchen würden, Kinder vor Inhalten zu schützen, die sie noch nicht verarbeiten können.
"Wir sind uns alle einig, dass Eltern ein Mitspracherecht bei der Erziehung ihrer Kinder verdienen und haben. Das ist absolut wichtig", zitiert NBC die Pen-Chefin. "Aber darum geht es im Grunde gar nicht, wenn Eltern in einer orchestrierten Kampagne mobilisiert werden, um Lehrer und Bibliothekare einzuschüchtern und zu diktieren, dass bestimmte Bücher aus den Regalen genommen werden, noch bevor sie gelesen oder bewertet wurden. Das geht über das vernünftige, legitime Recht von Eltern auf einen Austausch mit der Schule hinaus."
Traditionell hätten sich einzelne Eltern mit ihren Bedenken hinsichtlich des Bücherangebotes direkt an einen Lehrer oder Bibliothekar gewandt, um das Problem zu besprechen, schreibt Pen America. Mittlerweile kursierten jedoch im Internet lange Listen von angeblich anstößigen Titeln, die von einem Bezirk zum nächsten weitergereicht würden. Konservative Gruppen und Eltern würden googlen, um Bücher mit LGBTQ+-Inhalten zu finden und sie zu einer Liste ungeeigneter Bücher hinzuzufügen. Schulbezirke würden dann auf diese Liste reagieren und das in fast allen Fällen ohne Rücksicht auf Verfahren oder Richtlinien.
Diese 12 Bücher sollen in den USA verboten werden
Ein Roman für Kinder, der die Geschichte des Trans-Mädchens Melissa erzählt, das bei der Geburt als Junge eingestuft wurde und daher den Namen George trägt. Autor Alex Gino ist ein sogenannter Genderqueer und sieht sich weder als männlich noch weiblich. Kritiker sähen das Buch gern von Schulen und öffentlichen Bibliotheken verbannt, weil Kinder den Inhalt nicht ohne Diskussion verstünden und die Geschichte religiöse Gefühle verletze und gegen die Werte der traditionellen Familie verstoße.
Darüber hinaus hätten sich gewählte Beamte, darunter lokale Amtsinhaber und Gouverneure, zu dem Thema geäußert und gefordert, dass "obszöne" Materialien und sogar bestimmte Titel aus den Schulbibliotheken verbannt werden. Einschränkungen würden auch in Form von Richtlinienänderungen auf Bezirksebene und landesweiten Gesetzen vorgenommen. Pen America schätzt, dass mindestens 40 Prozent der aufgeführten Verbannungen mit vorgeschlagenen oder erlassenen Gesetzen oder mit politischem Druck von gewählten Vertretern zusammenhängen.
Von Juli 2021 bis Juni 2022 listet Pen America 2.532 Fälle auf, in denen einzelne Bücher verboten wurden, und die 1.648 einzelne Buchtitel betrafen – das heißt, einige Titel wurden mehrfach zur Zielscheibe in unterschiedlichen Bezirken und Bundesstaaten. Die 1.648 Titel stammen demnach von 1.261 verschiedenen Autoren, 290 Illustratoren und 18 Übersetzern, was sich auf die literarische, wissenschaftliche und kreative Arbeit von insgesamt 1.553 Personen auswirke.
Bei den Zahlen handelt es sich Pen zufolge um dokumentierte Fälle von Buchverboten, die dem Autorenverband direkt gemeldet wurden und/oder über die in den Medien berichtet wurde. Man gehe deshalb davon aus, dass es wohl noch mehr Verbote gab, die nicht gemeldet wurden.
Laut seinem Bericht hat Pen America mindestens 50 Gruppen identifiziert, die sich auf verschiedensten Ebenen dafür einsetzen, dass Bücher aus den Lehrplänen und Regalen der Schulbibliotheken entfernt werden. Sie könnten mit mindestens 20 Prozent der Verbote direkt in Verbindung gebracht werden.
Betroffene Autorin spricht von Stellvertreterkrieg
Dem Verband zufolge ist das Phänomen relativ neu. Knapp drei Viertel der Gruppen seien erst im Jahr 2021 gegründet worden und rasant gewachsen. Dazu gehöre auch Moms for Liberty (Mütter für Freiheit) die im vergangenen Jahr entstanden sei und bereits mehr als 200 Ortsgruppen auf ihrer Website aufliste.
"Ich meine, es gibt keine zwei Seiten in dieser Frage", verteidigte Moms-for-Liberty-Mitgründerin Tiffany Justice im Sender CBS ihr Engagement. "Es gibt Mütter, die ihre Kinder lieben und die keine Pornografie in der Schule wollen, und dann gibt es Leute, die Pornografie in der Schule haben wollen. Ich denke, dass das Thema Buch dazu benutzt wurde, Eltern auszugrenzen und zu verleumden. Die Wahrheit ist, dass Pornografie in öffentlichen Schulen nichts zu suchen hat."
Die am häufigsten verbotenen Bücher waren laut Pen America "Gender Queer: A Memoir" von Maia Kobabe, gefolgt von "All Boys Aren't Blue" von George M. Johnson und "Out of Darkness" von Ashley Hope Pérez.
Pérez sagte NBC News zufolge, es sei bemerkenswert, dass ihr Buch in 24 Schulbezirken verboten wurde, weil es bereits 2015 veröffentlicht und erst letztes Jahr angefochten worden sei. "Die Bücher sind ein Vorwand. Es ist ein Stellvertreterkrieg gegen Schüler, die die marginalisierten Identitäten der Autoren und Figuren in den angegriffenen Büchern teilen", sagte sie auf der Pen-Pressekonferenz. "Es ist eine politische Strategie. Das Ziel ist, das politische Engagement der Rechten zu schüren, indem man noch schärfere Linien um die anvisierten Identitäten zieht."
Das Verbot von Büchern schade den Schülern in mehrfacher Hinsicht, betonte Pérez. Wenn ein Schüler eine Identität mit einer Figur in einem Buch teile und dieses Buch verboten werde, sendet dies die Botschaft, dass Geschichten über Menschen wie sie nicht für die Schule geeignet seien. "Wenn Schulleiter diesem Druck nachgeben, stellen sie das fragwürdige Urteil einer Handvoll Eltern über das professionelle Ermessen und die Ausbildung von Bibliothekaren und Pädagogen und vor allem über die Bedürfnisse der Schüler."
Quellen: Pen America, NBC News, NPR, "New York Times"