"Das ist Krieg hier, das ist Bagdad", beschreibt ein Polizist die Tumulte, die Nacht für Nacht in den Pariser Vorstädten des Départements Seine-Saint-Denis ausbrechen. Jugendliche zünden Autos und Müllcontainer an und errichten mit ihnen Straßensperren. Sie attackieren Polizisten mit Steinen und Molotow-Cocktails. Die Bereitschaftspolizei erwidert die Angriffe mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen.
Mit Gummiknüppel und Tränengas gegen die Randalierer
Allein in der Nacht zum Mittwoch steckten Randalierer in den Problemvierteln Aulnay-sous- Bois, Villiers-le-Bel, Chelles, Nanterre und Mantes-la-Jolie 69 Fahrzeuge in Brand. Im nahe gelegenen Vorort Bondy ging ein Teppichgeschäft in Flammen auf. Die Lage sei explosiv und sehr unruhig, sagte ein Sprecher der Polizei in der Nacht. Die Täter gingen in kleinen Gruppen vor, die äußerst mobil seien. Laut dem Rundfunksender France-Info wurden insgesamt etwa 150 Brände gelegt. Erst am frühen Morgen beruhigte sich die Lage. Rund ein Dutzend Jugendliche wurden festgenommen.
Auslöser der Unruhen war der Tod zweier 15- und 17-jähriger Jugendlicher in Clichy-sous-Bois am vergangenen Donnerstag. Sie glaubten sich von der Polizei verfolgt und hatten sich in einem Transformatorhäuschen versteckt, wo sie einen tödlichen Stromschlag erlitten. Ein dritter Jugendlicher überlebte mit schweren Verbrennungen. Schnell verbreitete sich in dem nordöstlichen Pariser Vorort daraufhin das Gerücht, die Polizei habe sie gejagt - und sei damit verantwortlich für den Tod. Seitdem vergeht in der Region Seine-Saint-Denis, einer Immigranten-Wohngegend mit extrem hoher Arbeitslosigkeit und gravierenden sozialen Problemen, keine Nacht ohne Straßenschlachten zwischen Jugendlichen und der verhassten nationalen Bereitschaftspolizei CRS.
"Wir werden uns des Gesindels entledigen"
Inzwischen erschüttert die Gewalt nicht nur die Pariser Vorstädte, sondern auch die französische Politik. Frankreichs Ministerpräsident Dominique de Villepin hat die Familien der zwei Jugendlichen besucht, die ums Leben gekommen waren. Begleitet wurde er von Innenminister Nicolas Sarkozy, der zuvor die Krawalle eher noch angestachelt hatte. Der Liebhaber markiger Worte sagte angesichts der urbanen Gewalt in Clichy-sous-Bois: "Wir sind dafür da, dieses Krebsgeschwür auszumerzen, wir werden uns dieses Gesindels entledigen." Er kündigte gleichzeitig an, mehr nationale Polizei in den Vierteln stationieren zu wollen.
Tränengas in einer Moschee
Angeheizt wurden die Unruhen dadurch, dass in Clichy-sous-Bois am Sonntagabend in einer Moschee zwei Tränengasgranaten explodierten. Mehrere muslimische Gläubige berichteten, Polizisten hätten Granaten die Moschee geworfen. Sarkozy bestätigte bei seinem Besuch in der Präfektur von Bobigny, die für Clichy-sous-Bois zuständig ist, dass in der dortigen Moschee eine Tränengasgranate explodiert sei. "Es ist aber völlig unklar, wie diese dort hingekommen sind", sagte Sarkozy, der eine Untersuchung ankündigte.
In einem Interview mit der Zeitung "Le Parisien" verteidigte Sarkozy seine Haltung. Versuche, den Problemen in den Vorstädten vor allem mit Sozialarbeit zu begegnen, seien gescheitert. "Man hat oft das Inakzeptable akzeptiert. Die herrschende Ordnung ist zu häufig die der Banden, der Drogen, der Drogenhändler", sagte Sarkozy. Zugleich räumte er ein, die größten Probleme seien das Gefühl der Ausgeschlossenheit und die hohe Arbeitslosigkeit in den Einwanderervierteln.
Sarkozys Reaktionen auf die Gewalt in Clichy-sous-Bois ist auch innerhalb der Regierung in die Kritik geraten. Der Regierungsbeauftragte für Chancengleichheit, Azouz Begag, kritisierte in einem am Dienstag veröffentlichten Interview, Sarkozy habe sich zu einer "kriegerischen und ungenauen Sprache" hinreißen lassen. Der Vorsitzende der oppositionellen Sozialisten, François Hollande, forderte in einem Interview "Null Toleranz für Sarkozy". Er warf der Regierung vor, die Nachbarschaftspolizei weitgehend abgeschafft und die Prävention vernachlässigt zu haben. Die Strafvollzugsexpertin Maryse Esterle-Hedibel sagt: "Die jungen Leute haben es in diesen schwierigen Vierteln hundert Mal mehr mit einem Polizisten als mit einem Lehrer zu tun."
"Wir verurteilen die Gewalt, verstehen aber, dass es sie gibt"
Der Tod der zwei Jugendlichen hat zu der Entladung aufgestauter Wut und Frustration unter benachteiligten Jugendlichen "in Problemvierteln" geführt, so Sozialwissenschaftler über die Gründe. "Die Polizei nimmt keinerlei Rücksicht auf unsere Kinder, wohl weil hier in der Gegend alle schwarz sind oder Araber" - so entrüstet sich eine Haushälterin über die als Schikane empfundene Präsenz der Polizei in den betroffenen Vierteln. "Das ist doch Rassismus. Wir verurteilen die Gewalt, verstehen aber, dass es sie gibt."
Frankreichs Mittelschicht leidet bis an die Schmerzgrenze
Selbst Frankreichs Mittelschicht leidet mittlerweile bis an die Schmerzgrenze unter sinkender Kaufkraft und steil steigenden Mieten. Und wer sich bereits ausgegrenzt fühlt, empfindet die Demonstration staatlicher Gewalt vielleicht besonders intensiv: "Es war wie eine wirkliche Guerilla-Szene", erzählt der 24-jährige Rachid von den nächtlichen Krawallen.
Um die Wogen zu glätten, hat Frankreichs Ministerpräsident Dominique de Villepin am Dienstag zur Rückkehr zu Normalität aufgerufen. "Der Ministerpräsident hat betont, es sei notwendig, zur Ruhe und zur öffentlichen Ordnung zurückzukehren", teilte Villepins Büro mit.