Die böse Überraschung lauerte am Bahnhof. Plötzlich waren die elektronischen Tickets für den Nachtzug von Moskau nach Kirow ungültig. Auch an der Kasse gab es bald keine Fahrkarten mehr, twitterten Nawalnys Anhänger. Eigentlich wollten sie über Nacht in die Provinzstadt 800 Kilometer östlich von Moskau aufbrechen, um beim Prozess gegen den populären Blogger und scharfen Putin-Kritiker dabei zu sein. Doch selbst die Pressesprecherin von Alexei Nawalny musste schließlich das Auto nehmen.
Das Ganze wirkt wie eine weitere Schikane in dem von Nawalny als absurd bezeichneten Prozess. Am Montag wollte keine einzige Druckerei in Kirow Flugblätter der Nawalny-Anhänger drucken. Am Dienstag bemühte sich die Verteidigung erfolglos um eine Verlegung der Verhandlungen nach Moskau. Dort wäre dem Prozess internationale Aufmerksamkeit garantiert, stattdessen umringt nur etwa ein Dutzend Journalisten den Oppositionellen am frühen Morgen auf dem Bahnsteig in Kirow. "Ich bin mir sicher, dass ich meine Unschuld beweisen kann, wenn nicht dem Richter dann wenigstens den Menschen, die anwesend sind", sagte Nawalny.
Tatsächlich ist der Andrang deutlich geringer als am ersten Prozesstag vor einer Woche, als der Richter Sergej Blinow die Verhandlung nach wenigen Minuten vertagte. "Der Prozess gegen Nawalny ist ein Prozess gegen uns", prangt auf dem Plakat eines Demonstranten vor dem Lenin-Gericht. Im Gerichtssaal selbst dürfen sich mehrere Kamerateams postieren, ungewöhnlich in Prozessen gegen die Opposition.
Es geht um Vetternwirtschaft und 400.000 Euro
Laut Staatsanwaltschaft soll Nawalny in seiner Zeit als Berater des Gouverneurs von Kirow rund 400.000 Euro veruntreut haben. Er habe dafür gesorgt, dass die staatliche Holzgesellschaft Kirowles, ihre Produkte exklusiv und unterhalb der Marktpreise an die Handelsfirma WLK verkaufte. WLK wiederum gehörte Nawalnys Freund Pjotr Ofizerow, der ebenfalls auf der Anklagebank sitzt. Der Schaden, den Nawalny angerichtet habe, entspricht der gesamten Vertragssumme zwischen den beiden Unternehmen.
"Die Beweise der Anklage sind auch unsere Beweise", widerspricht Nawalny. Die Strategie der Verteidigung ist klar. WLK hat die 400.000 Euro an Kirowles überwiesen. Somit sei gar kein Schaden entstanden. Zu Beginn der Verhandlung, nachdem eine neuerliche Vertagung abgelehnt wird, listet einer von Nawalnys Anwälten etwa eine halbe Stunde minutiös jeden Formfehler in der Anklageschrift auf, darunter auch gravierende Mängel wie abweichende Schadenssummen an unterschiedlichen Textstellen. Insgesamt sechs Punkte, die Grund genug seien, die Anklage zur Überarbeitung an die Staatsanwaltschaft zurückzureichen. Zudem seien die Formulierungen so unscharf, dass der Sinn der Anschuldigungen gar nicht klar sei. Nach kurzem Widerspruch der Staatsanwälte ordnet der Richter kurz vor 11 Uhr Ortszeit eine dreistündige Mittagspause an.
Der Prozess, der bereits am Anfang zu einem Geduldsspiel zu werden droht, scheint für viele ein Politikum zu sein. Alexei Kudrin, der ehemalige Finanzminister und Vertrauter Putins, schrieb in seinem Blog, dass ihn die Anklage an die sowjetische Planwirtschaft erinnere. "Hier werden die Grundlagen der Vertragsfreiheit angegriffen", kritisiert der Finanzexperte. Auch der Milliardär und ehemalige Putin-Herausforderer Michail Prochorow springt für Nawalny in die Bresche. Die Gerichte hätten sich längst in eine Repressionsmaschine verwandelt.
Alles nur ein Rachefeldzug?
Tatsächlich sehen viele Beobachter in dem Prozess einen Rachefeldzug von Alexander Bastrykin, dem Chef der Ermittlungsbehörde Russlands. Die Ermittler hatten den Kirowles-Prozess gegen Nawalny bereits eingestellt. Bis zu dem Zeitpunkt, als Bastrykin zur Zielscheibe für Nawalnys populären Antikorruptionsblog wurde. Umgehend forderte Bastrykin vor laufenden Kameras von seinen Mitarbeitern, das Verfahren gegen Nawalny wieder aufzurollen. "Warum wurde das Verfahren eingestellt? Dafür gibt es keine Entschuldigung", polterte der Chefermittler.
Doch auch wenn die Anklage juristisch konstruiert zu sein scheint. Er könnte dennoch einiges zu Tage fördern, was auch Nawalnys Ansehen schadet. Besonders heikel ist ein Detail zum Anwaltsstatus des 36-Jährigen. Um diesen zu erlangen, reichte er offenbar ein fingiertes Papier bei der Anwaltskammer ein. Dieses bescheinigt ihm die nötige juristische Praxis als Stellvertreter für juristische Fragen in einer Firma, deren Chef er selber gewesen ist. Eine Episode, zu der der Oppositionsführer bisher lieber schweigt.
Noch ein zweites Verfahren anhängig
Brisant ist ebenfalls ein zweites Verfahren gegen Nawalny, in das auch sein Bruder Oleg verwickelt ist. Oleg Nawalny, Abteilungsleiter bei der russischen Post, soll Yves Rocher genötigt haben, Transportaufträge zu überteuerten Preisen mit einer Briefkastenfirma seines Bruders Alexei abzuschließen. Ausgeführt wurden sie am Ende aber von der russischen Post. Die Anzeige erstatteten die Franzosen selber.
Die Details, die dem Kreml in die Hände spielen, entfalten bereits ihre Wirkung. In einer jüngsten Umfrage des WZIOM-Instituts bekundeten 51 Prozent ihre negative Einstellung zu Nawalny. Vor einem Jahr lag der Wert noch bei rund 30 Prozent. Lediglich 19 Prozent sehen den Oppositionellen positiv. Selbst wenn es ihm gelingen würde, juristisch seine Unschuld zu beweisen, wiegt der moralische Vorwurf, einem Freund geschäftliche Vorteile verschafft zu haben, ziemlich schwer. Dabei hatte Nawalny erst kürzlich Ambitionen aufs Präsidentenamt bekundet. Das könnte ihm ohnehin verwehrt bleiben. Denn die Duma peitschte kürzlich ein Gesetz durch, demnach Vorbestrafte nicht als Präsident kandidieren dürfen.
Das dürfte wahrscheinlich auch Nawalny betreffen. Richter Blinow hat in seiner Karriere noch nie einen Freispruch gefällt. Nach der langen Mittagspause schmettert er auch die Argumente der Verteidigung ab und bezeichnet die Anklage als schlüssig und zulässig.