Qualvoller Tod Baby wie Sandsack behandelt

Als er noch lebte, hatte der 17-Monate-alte Junge für wenig Aufmerksamkeit gesorgt, noch nicht einmal, als er im August 2007 mit über 50 Verletzungen in einem blutgetränkten Bettchen starb. Am Dienstag wurden seine Mutter und ihr Freund wegen schwerer Misshandlung mit Todesfolge verurteilt. Und am Mittwoch streitet das britische Unterhaus lautstark über den Fall.

"Ich erwarte ja gar keine Antwort von Ihnen", höhnte Oppositionsführer David Cameron am Lesepult im Unterhaus. "Man bekommt ja doch nie eine!" Und dann hämmerte er mit der Hand auf das Pult und brüllte hinaus, was Hunderte Email-Schreiber und Anrufer an diesem Mittwoch zum Ausdruck brachten: Der Tod des 17-Monate-alten Kleinkindes im Londoner Stadtteil Haringey, über 50 Mal brutal verletzt von seiner Mutter und deren Freund, ist eine Schande für die Sozialbehörden und damit für Großbritannien. Und Gordon Brown feuerte zurück, dass er wie das ganze Land die Wut über das Geschehen teile – er aber "parteipolitisches Spiel" mit dem Fall ablehne. Daraufhin brach Chaos aus im Unterhaus, die Regierungs-Partei johlte, die Konservativen buhten und Cameron brüllte, das sei "billig".

Brown wirkt seltsam distanziert

Es ist kein schönes Bild, das die britischen Politiker da hinterlassen haben und vor allem der Premierminister lässt einmal mehr den Eindruck zurück, dass jedes Thema, das nicht mit Wirtschaft zu tun hat, ihn seltsam distanziert werden lässt. Der BBC-Reporter Nick Robinson nannte es eine "politische Taubheit", unter der Brown leide.

Brown sprach angesichts des höllischen Leidens eines Kleinkindes von Untersuchungskommissionen, die eingerichtet und Berichten, die eingeholt werden müssten und ansonsten plädierte er dafür, die "Kohärenz in diesem Punkt zu maximieren". Er wird die Aufregung unter seinen Wählern mit diesen Worten nicht beruhigt haben.

Vermeidbare Tragödie

Denn der Fall des kleinen Jungen aus dem Norden Londons ist eine furchtbare, weil vermeidbare Tragödie. Bekannt ist das Kind nur als Baby P, weil ein Gerichtsbeschluss die Veröffentlichung seines Namens wie auch die seiner Mutter und ihres Freundes verbietet. Die 27-jährige Mutter und ihr 32-jähriger Freund wurden gestern in einem Prozess schuldig gesprochen, den Tod des Kindes im August vergangenen Jahres verursacht oder zugelassen zu haben. Abbildungen der fürchterlichen Verletzungen am kleinen Körper sind heute in allen Tageszeitungen abgebildet.

Über und über mit Blut verschmiert und voller blauer Flecken fanden Sanitäter Baby P am Morgen des 3. August 2007 in seinem Bettchen. Das Kind atmete nicht mehr und war bereits blau angelaufen. Im Krankenhaus konnten die Ärzte nur noch den Tod des Kindes feststellen. Jemand hatte ihm so fest ins Gesicht geschlagen, dass er einen Zahn verschluckte. Sein Mund war aufgeplatzt, die Haut auf der Nase abgerissen, sein Rückgrat und mehrere Rippen zwei Tage zuvor gebrochen worden. Ein Fingernagel fehlte. Auf dem geschorenen Kopf war die Haut aufgerissen. Der Junge war als Sandsack missbraucht worden. Und niemand, so scheint es, hat ihn retten wollen.

Mutter war mit ihrem Sohn überfordert

Den Sozialbehörden in Haringey, Nordlondon, war bekannt, dass die Mutter mit ihrem Sohn überfordert war. Selber Tochter einer alkoholabhängigen Mutter, ist die 27-jährige den Behörden schon seit ihrer Kindheit bekannt. Mit dem Vater des Kindes lebte die Frau, seitdem sie mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen war. Nach der Geburt von Baby P im März 2006 trennte sie sich jedoch von ihm und zog mit einem neuen Freund zusammen. Die neue Lebenssituation verschwieg sie den Behörden, wohl auch aus Angst, dass Sozial-Beihilfen von etwa 550 Euro im Monat sowie eine Mietunterstützung zusammengestrichen werden könnten.

Es ist dieser 32-jährige Freund, den zumindest die Polizei nun für schuldig hält, das Kind misshandelt zu haben. Der Mann war schon in seiner Kindheit für sadistische Züge bekannt. Bekannte sagten aus, er habe Tiere gequält und sei auch seine Großmutter körperlich angegangen, um sie zur Änderung ihres Testaments zu bewegen. Die Frau starb, bevor den Anschuldigungen nachgegangen werden konnte. In der Wohnung des Paares fanden Ermittler nach dem Tod von Baby P Nazidevotionalien und pornographisches Material. Ein Polizist sagte aus, der Mann sei "sadistisch – fasziniert von Schmerz". Wenn sie von der Existenz des Mannes im Leben von Baby P gewusst hätten, so die Polizei, hätten sie sofort ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.

Mehr Interesse für Hunde als für Sohn

Zweimal fielen Ärzten seltsame blaue Flecken am Körper des Kindes auf, zweimal wurde gegen die Mutter wegen Misshandlung eines Schutzbefohlenen ermittelt. Immer wieder zeigte sie sich anschließend kooperativ, zog in eine neue Wohnung um, ließ eine bezahlte Kinderpflegerin auf ihren Sohn aufpassen, stimmte einer vorübergehenden Betreuung durch eine Bekannte zu. Die Situation zu Hause verbessert sich nicht, Baby P kauert sich jedes Mal wie ein erschrockener Hund auf den Boden, wenn er den Freund der Mutter sieht. Die scheint sich, so wird es im Prozess von Bekannten ausgesagt, sowieso mehr für ihre Hunde zu interessieren als für ihren Sohn.

Es waren Beamte der polizeilichen Ermittlungsstelle für Kindesmisshandlung, die einen vernichtenden Bericht über die Verhältnisse in der Familie an die Behörde in Haringey schickten. Ihre Empfehlung: Sofortige Entfernung des Kindes aus dem Umfeld. Doch diese Einschätzung soll erst nach dem Tod des Kindes bei den zuständigen Sachbearbeitern angekommen sein.

Schokolade sollte blaue Flecken überdecken

Dagegen entschieden die Anwälte der Sozialbehörde, dass die Beweise nicht ausreichten, um das Kind aus der Familie herauszuholen. Als die zuständige Sozialarbeiterin Baby P das letzte Mal sah, war er überall im Gesicht und auf den Händen mit Schokolade verschmiert. Die Mutter und ihr Freund hatten so versucht, die blauen Flecken und Abschürfungen zu verdecken. Die Sozialarbeiterin notierte nichts Auffälliges.

Das letzte Mal hätte der kleine P im Kinderkrankenhaus gerettet werden können. Dort wurde er zwei Tage vor seinem Tod von einer Ärztin untersucht. Die stellte nur fest, dass das Kind auffällig "unleidlich" gewesen sei und viel geschrieen habe. Sie bricht die Untersuchung daraufhin ab. Ärzte stellten bei der Obduktion fest, dass zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich schon das Rückgrat des Kindes gebrochen worden war.

Mädchen im gleichen Stadtteil zu Tode geprügelt

Der Tod des Babys schockiert die Briten auch deshalb so sehr, weil es ausgerechnet in einem Londoner Stadtteil passierte, in dem im Jahr 2000 ein kleines Mädchen von ihrer Familie zu Tode geprügelt wurde. Auch Victoria Climbié stand bereits auf der Liste gefährdeter Kinder, auch sie wurde regelmäßig von Sozialarbeitern besucht. Und auch hier war nicht früh genug das Wohl des Kindes über alles andere gestellt worden.

Die Labour-Regierung hatte nach einer ausführlichen Untersuchung der Vorgänge zum Tode Victoria Climbiés neue Gesetze auf den Weg geschickt, um die Arbeit von Sozial- und Familienbehörden besser zu koordinieren. Gordon Brown wird sich jetzt Fragen gefallen lassen müssen, was immer noch schief läuft in Haringey – und vielleicht in anderen Sozialbehörden des Landes. Er hat eine neue Untersuchungskommission angekündigt. Die Leiterin der Behörde in Haringey, Sharon Shoesmith, wies derweil Rufe nach Konsequenzen weit von sich: "Das Kind wurde von Familienmitgliedern umgebracht, nicht von jemanden, der für unsere Behörde arbeitet. Das Traurige ist, dass man Menschen nicht stoppen kann, die sich vorgenommen haben, ein Kind zu töten."