"Niemals in der Geschichte war die Trennlinie zwischen dem Guten und dem Bösen so klar" – glaubt der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. Das sehen auch die Menschen westlicher Staaten so. In anderen Teilen der Welt ist das Bild dagegen weniger klar, zeigt eine Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Während US- und EU-Bürger Russland für den Gegner halten, ist das Land für die Türkei ein Partner, für Indien ein Verbündeter, für China sogar beides.
Die Studie bestätigt damit, was sich bereits bei UN-Versammlungen im letzten Jahr abzeichnete: Im März stimmten 141 der 193 UN-Mitgliedstaaten für eine Resolution, in der Russland zum "sofortigen" Abzug aus der Ukraine aufgefordert wurde. Im April sprachen sich 93 Staaten dafür aus, Russlands Mitgliedschaft im UN-Menschenrechtsrat in Genf auszusetzen. Und im Oktober verurteilten 143 Mitgliedstaaten die "illegalen Annexionen" der ukrainischen Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja durch Russland.
Berichte aus dem letzten Jahr suggerieren zwar wiederholt, dass sich die Weltgemeinschaft geschlossen gegen Waldimir Putin stellt. Dabei hatten sich Länder des globalen Südens häufig zurückgehalten. Aus Südafrika, Brasilien oder Indien fehlten kritische Töne zur russischen Invasion. Gleichzeitig enthielten sie sich bei den Russland-Sanktionen.
Auch jetzt erhofft sich die Ukraine von der UN-Vollversammlung eine weitere Resolution gegen Russland. Annalena Baerbock ist der Meinung: "Was die Weltgemeinschaft verlangt, könnte einfacher nicht sein: Stopp der russischen Angriffe, Schutz der Zivilbevölkerung, Achtung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine durch russischen Truppenabzug, Rechenschaft für die begangenen Verbrechen."
Doch so einfach, wie es sich die Ukraine wünscht und Baerbock darstellt, ist es nicht, zeigt auch die Befragung der Denkfabrik. Für das Stimmungsbild hatten die Forscher im Dezember 2022 und Januar 2023 Bürger aus neun EU-Staaten, den USA, Großbritannien, China, Russland, der Türkei und Indien zu ihrer Einstellung im Ukraine-Krieg befragt.
Ukrainischer Sieg vs. baldiges Kriegsende
Dabei kam unter anderem heraus: In der EU, den USA und Großbritannien ist der Sieg der Ukraine über Russland wichtiger als ein schnelles Kriegsende. Nur so sei ein langfristiger Frieden möglich. Die Menschen in der Türkei, China und Indien eint dagegen der Wunsch nach einem baldigen Kriegsende. Auch wenn die Ukraine ihre bereits verlorenen Territorien dafür aufgeben müsste.

Multipolare vs. bipolare Weltordnung
Führende Politiker aus Europa und den USA hatten die russische Invasion immer wieder als Angriff auf demokratische Werte verurteilt. Russland warf den Unterstützern der Ukraine bei der UN-Vollversammlung indes vor, nach der "Weltherrschaft" greifen zu wollen. Unabhängig von der Nationalität sind sich die Befragten einig, dass der Ukraine-Krieg eine neue globale Ordnung befeuert. Wie diese neue Welt aussehen wird, unterscheidet sich: Von einer bipolaren Weltordnung mit China und den USA als Großmächten gehen westliche Bürger aus. Der Rest rechnet mit einer multipolaren Weltordnung ohne westliche Dominanz. "Der Westen wird eine starke Partei sein, aber kein Hegemon", fassen die Studienautoren das Ergebnis zusammen.
Russland als Verbündeter, Partner oder Rivale
Auch über die Rolle Russlands gibt es unterschiedliche Ansichten. China, Indien und die Türkei glauben, dass das Land im Ukraine-Krieg stärker geworden ist. Der Westen geht davon aus, dass das Land geschwächt wurde. Für sie bleibt Russland dennoch ein Rivale, künftige Beziehungen könnten nur in Form von Konfrontationen stattfinden, glauben die Befragten. Doch es gibt auch Gegenstimmen:
- In Indien sieht die Hälfte der Befragten Russland als Verbündeten an.
- Die Chinesen schwanken zwischen Verbündetem und notwendigem Partner.
- Die Türkei sieht Russland eher als notwendigen strategischen Partner an.

Türkei und Indien wollen sich nicht auf eine Seite ziehen lassen
Bemerkenswert ist insbesondere die Haltung der Türkei und Indiens. "In einer zunehmend fragmentierten Welt scheinen Länder wie Indien und die Türkei von einem freischwebenden Souveränismus angezogen zu werden – wo jeder Konflikt zwischen Supermächten zu einer Gelegenheit wird, die eigene Relevanz und Fähigkeit zu behaupten, souveräne Entscheidungen zu treffen", heißt es in der Studie.
Indien sieht sowohl in Russland als auch in den USA Verbündete mit denselben Werten und Interessen. Mit beiden Mächten pflegt das Land wirtschaftliche Beziehungen. Im vergangenen Jahr stieg Russland zu Indiens viertgrößtem Ölimporteur auf. Gleichzeitig kündigten die USA im November 2022, ihre Beziehungen zu Indien stärken zu wollen.
Die Türkei sieht in Russland einen strategischen Partner. Im Ukraine-Krieg bot sich Präsident Recep Rayyip Erdogan wiederholt als Vermittler an. Er war zeitweise der einzige Staatschef, der direkten Kontakt zu beiden Kriegsparteien hatte.
"Unserer Ansicht nach wäre der Westen gut beraten, Indien und die Türkei und andere vergleichbare Mächte als neue souveräne Subjekte der Weltgeschichte zu behandeln und nicht als Objekte, die auf die rechte Seite der Geschichte gezogen werden", resümieren die Studienautoren. Den beiden Ländern sei zwar bewusst, dass sie keinen vergleichbaren Einfluss wie die USA oder China haben. "Aber sie geben sich sicherlich nicht damit zufrieden, sich den Launen und Plänen der Supermächte anzupassen."
Der Ukraine-Krieg habe den Westen geeint, aber seinen Einfluss nicht befördert. Dass Russland dieses Gefüge stört, sei unwahrscheinlich, schreiben die Studienautoren. Auszuschließen ist es aber auch nicht, auch wenn die Forscher davon ausgehen, dass etwa ein Wahlsieg Donald Trumps diese Einigkeit eher stören könnte.